Mittheilung, betreffend die Konstituirung der Bibliothekkommission: 807
Desgleichen über eine Ersatzwahl zur II. (Petitions-) Kommission: 807
Beurlaubungen; entschuldigte Mitglieder . 807
Austritt eines Mitgliedes aus der XI. Kommission (Verrath militärischer Geheimnisse) 807
Berathung des Antrags des Abgeordneten Werner, betreffend die Einstellung des gegen den Abgeordneten Ahlwardt wegen öffentlicher Beleidigung beim Landgericht Berlin I schwebenden Strafverfahrens für die Dauer der laufenden Session (Nr. 100 der Anlagen) .. 807
Antragsteller Werner 807. 808
Dr. Hartmann (Plauen) ... 808 L, L
Fortsetzung der zweiten Berathung des Reichshaushaltsetats für das Etatsjahr 1893/94:
Reichsamt des Innern (Fortsetzung) ... 808
Fortsetzung der allgemeinen Debatte (Nothstand ec., Ziele der Sozialdemokratie):
Bebel ... 808
Freiherr von Stumm-Halberg ...820
Dr. Bachem .82b
Feststellung der Tagesordnung für die nächste Sitzung . . . 834
Austritt eines Mitgliedes aus der IX. Kommission (Abzahlungsgeschäfte) 834
Berichtigung zum stenographischen Bericht der 33. Sitzung: 834
Die Sitzung wird um 1 Uhr 15 Minuten durch den Präsidenten von Levetzow eröffnet.
Das Protokoll der vorigen Sitzung liegt auf dem Büreau zur Einsicht offen.
Die Bibliothekkommission hat zu ihrem Vorsitzenden gewählt den Herrn Abgeordneten Freiherrn von Unruhe-Bomst, zum Stellvertreter den Herrn Abgeordneten Dr. Kropatscheck und zum Schriftführer den Herrn Abgeordneten Dr. Böttcher.
An Stelle des Herrn Abgeordneten Dr. Gutfleisch, welcher aus der Petitionskommission geschieden ist, ist der Herr Abgeordnete Wilbrandt gewählt worden.
Ich habe Urlaub ertheilt den Herren Abgeordneten:
Liebermann von Sonnenberg für 2 Tage,
Steinmann für 8 Tage,
von Helldorff für 6 Tage.
Längeren Urlaub suchen nach die Herren Abgeordneten:
Dr. Schier für 14 Tage wegen dringender Berufsgeschäfte;
Dr. Gutfleisch für den Monat Februar, behufs Theilnahme an den Arbeiten des hessischen Landtags.
Diesen Gesuchen wird nicht widersprochen; sie sind bewilligt.
Für heute haben sich die Herren Abgeordneten Dr. Bürklin und Hesse entschuldigt.
Der Herr Abgeordnete Schmieder wünscht wegen anderweiter Geschäfte aus der IX. Kommission scheiden zu dürfen. – Widerspruch wird nicht erhoben; deshalb veranlasse
ich die 2. Abtheilung, heute unmittelbar nach der Plenarsitzung
Wir treten in die Tagesordnung ein. Erster Gegenstand derselben ist die
Berathung des von dem Abgeordneten Werner eingebrachten Antrags, betreffend die Einstellung des gegen den Abgeordneten Ahlwardt wegen öffentlicher Beleidigung beim Landgericht Berlin I schwebenden Strafverfahrens für die Dauer der laufenden Session (Nr. 100 der Drucksachen).
Antragsteller Abgeordneter
(Glocke des Präsidenten.)
Antragsteller Abgeordneter
(Glocke des Präsidenten.)
Antragsteller Abgeordneter
(Glocke des Präsidenten.)
(Abgeordneter Dr. Horwitz: Ich bitte um Entschuldigung, Herr Präsident, ich hatte es nicht gehört.)
Antragsteller Abgeordneter
Abgeordneter Dr.
Abgeordneter
(Heiterkeit.)
Abgeordneter Dr.
(Heiterkeit)
und verlangt von mir eine Rede, auf die er eine neue Rede setzen will.
(Heiterkeit.)
Ich sage ihm: nein, ich werde keine Rede halten, ich werde seinen Antrag annehmen, schweigen, und meine Freunde werden es auch; und jetzt kommt er von neuem und verlangt durchaus eine Rede gegen ihn. Nein, die halte ich nicht!
(Große Heiterkeit.)
Es bleibt bei unserer Praxis, daß wir unbedeutende Sachen stillschweigend hingehen lassen. Und wenn der Herr Vorredner sich darüber beklagt, daß das gegen ihn früher auch mal geschehen sei, – nun sehr einfach: die Sache war eben auch unbedeutend.
Wir haben abzustimmen über den Antrag des Herrn
Der Reichstag wolle beschließen:
den Herrn Reichskanzler zu ersuchen, zu veranlassen, daß das gegen den Abgeordneten Ahlwardt wegen öffentlicher Beleidigung beim Landgericht Berlin I, Strafkammer II, schwebende Strafverfahren (Aktenzeichen I. I H,. 40/92) für die Dauer der laufenden Session eingestellt werde.
Ich bitte die Herren, welche so beschließen wollen, aufzustehen.
(Geschieht.)
Das ist die Majorität; der Antrag ist angenommen, und damit dieser Gegenstand der Tagesordnung erledigt.
Wir kommen zum zweiten Gegenstand der Tagesordnung:
zweite Berathung des Entwurfs eines Gesetzes, betreffend die Feststellung des Reichshaushaltsetats für das Etatsjahr 1893/94 (Nr. 4 der Drucksachen),
und zwar Spezialetat für das
mit dem mündlichen Bericht der Kommission für den Reichshaushaltsetat über Theile dieses Etats (Nr. 78 der Drucksachen).
Referent ist der Abgeordnete Graf von Behr. Gedruckt liegt hierzu vor der Antrag Nr. 92.
In der wiedereröffneten Diskussion über Kap. 7 Tit. 1 des Ordinariums bat das Wort der Herr Abgeordnete Dr. Buhl.
(Pause.)
Abgeordneter
(Heiterkeit.)
Ich werde allerdings genöthigt sein, heute über vielerlei zu sprechen. Bevor ich aber auf die gewünschte Auseinandersetzung, die jene Herren provozirt haben, des näheren eingehe, bin ich verpflichtet, diejenigen Einwände hier zurückzuweisen, die auf dem Gebiet, das uns zunächst am Dienstag beschäftigt hatte, gegen mich und meine Freunde erhoben wurden.
Es war der Herr Staatssekretär Dr. von Boetticher, welcher meine Anklage, daß die Eisenbahnverwaltung in Preußen sogar so weit gegangen sei, daß sie den Bahnbeamten,
Meine Herren, daß ich zu jenen Anführungen
kam, gründete sich auf Zeitungsnotizen, die seit Wochen
von allen Blättern gebracht und kommentirt wurden, und
die insbesondere scharf tadelten, daß der Eisenbahnminister
zu solchen Mitteln greife. Eine gewisse Motivirung erhielten diese
Berichte auch noch dadurch, daß, soweit ich gesehen habe, der
preußische Eisenbahnminister in seinem Etat eine Summe
von 140 000 Mark als Ersparnisse an Beamtenbekleidung aufgeführt
hat. Thatsache ist ferner, daß die Bahnverwaltung einen
Theil der in ihrem Besitz befindlichen Mäntel zu Schleuderpreisen
verkauft hat, und daß diejenigen Beamten, welche nach wie
vor sich genöthigt sahen, solche Mäntel zu ihrem Schutz
zu gebrauchen, genöthigt waren, sie zu verhältnismäßig
hohen Preisen wieder zu kaufen. Er hat ferner angeführt,
das von mir monirte Verfahren in den Eisenbahnwerkstätten,
daß man statt der bisherigen vierzehntägigen Lohnzahlung
jetzt zu monatlichen Lohnzahlungen aus Ersparnißrücksichten übergegangen
sei, fände nicht statt; nach wie vor sei die Lohnzahlung
vierzehntägig, nur die Abrechnung sollte monatlich stattfinden.
Meine Herren, daß ein aus den loyalsten Elementen gewählter Arbeiterausschuß,
wie jener der Eisenbahnwerkstätte in Witten in Westfalen
sich veranlaßt sah, auf Grund dieser Maßregeln
des Eisenbahnministers sein Mandat niederzulegen, nachdem die Verwaltung
seinen im Sinne der Arbeiter gestellten Antrag, die vierzehntägige
Lohnzahlung beizubehalten, nicht angenommen hatte, beweist denn
doch, daß die Arbeiter über diese Maßregel
wesentlich anders denken als der Minister von Boetticher. Es kommt
doch nicht darauf an, daß alle 14 Tage Lohn gegeben, und
monatlich abgerechnet wird, sondern es kommt
Weiter hat der Herr Staatsminister gemeint, ich klagte darüber,
daß so und so viele Arbeiter brodlos seien; er wolle nicht
bestreiten, daß das in großen Städten
und Industriebezirken der Fall sei, aber auf dem Lande nicht, und doch
erklärten wir uns gegen diejenigen Maßregeln,
die geeignet seien, daß die Arbeiter an denjenigen Orte
blieben, wo sie Arbeit fänden. Mit andern Worten: er befürwortet
die Beschränkung der Freizügigkeit, um zu verhindern,
daß die Arbeiter vom Lande nach den Städten und
Industriebezirken strömen; sie sollen in ihren ländlichen
Bezirken festgehalten werden, um dort nach seiner Meinung diejenige
Arbeit zu finden, die sie gegenwärtig in den Städten
und Industriebezirken nicht finden können. Auch diese Auffassung
des Herrn Staatsministers ist total falsch. Wenn die Arbeiter vom
Lande in die Industriebezirke strömen, so geschieht es deshalb,
weil auf dem Lande der Verdienst so geringfügig und der
Lebensunterhalt so schwer ist, daß sie ihre nothwendigsten
Lebensbedürfnisse – sie sind meist sehr bescheidener
Art – dort kaum bestreiten können. Die ländlichen
Arbeiter haben aber, wie jeder Mensch, das Recht, ihre Arbeitskraft
dort an den Mann zu bringen, wo sie glauben, die bestmögliche
Bezahlung dafür zu erhalten; und wenn die Arbeiter in diesem ihrem
Bestreben vielleicht hier und da irre gehen,
(Sehr richtig! links.)
Der Vorschlag, die Arbeiter nach dem Lande hinzuweisen, beweist
nur, daß die Herren verkennen, daß ebenso wie
in der industriellen, so auch in der landwirthschaftlichen Entwicklung
in den letzten Jahrzehnten eine völlige Revolution vor
sich gegangen ist. Auf dem Lande, wo große Güter in
Betracht kommen – und das ist namentlich im Osten der Fall –,
wird mehr und mehr die Handarbeit durch die Maschinenarbeit ersetzt.
Insbesondere sind in der Winterszeit diejenigen Arbeiten, die noch
vor Jahrzehnten für landwirthschaftliche Arbeiter vorhanden
waren und eine größere Zahl beschäftigten,
durch die Einführung von Maschinen nahezu aufgehoben worden.
So insbesondere durch die Einführung der Dreschmaschine,
der Futterschneidemaschine und einer Reihe anderer größerer oder
kleinerer Verbesserungen im Wirthschaftsbetrieb, die alle zusammen zum
Resultat hatten, daß heute die Landwirthe in der Lage sind,
mit einem verhältnißmäßig kleinen
Stabe von Arbeitern im Winter auszukommen, während die
größere Zahl von ihnen keine Verwendung findet. Wird
bei den notorisch geringen Löhnen, von denen selbst Herr
Graf Kanitz neulich erklärte, daß die Landwirthschaft
keine höheren zahlen könne, noch künstlich
durch Beschränkung der Freizügigkeit dafür
gesorgt, daß die Landarbeiter aus den Städten
und Industriebezirken wieder auf das Land zurückkehren, – was
würde die Folge sein? Die elenden Löhne, die jetzt
schon auf dem Lande gezahlt werden, würden noch tiefer
sinken, und die allgemeine Lage der Arbeiter würde eine
noch schlechtere werden als heute. – Das ist also eins
der Heilmittel, die der Herr Staatsminister gegen den Nothstand
vorschlägt, das aber, von
Der Herr Abgeordnete Mehnert hat dann die freundliche Meinung ausgesprochen, er glaube, daß, wenn die Sozialdemokraten, ähnlich so wie ich es kurz zuvor in meiner Rede von den Herren Unternehmern ausgesprochen hatte, auf Schiffe gebracht und wegspedirt würden, die Gesellschaft dabei sich sehr wohl fühlen würde. Daß Herr Dr. Mehnert und seine Parteigenossen, überhaupt die herrschenden Klassen in Deutschland, bei einer derartigen Expatriirung der Sozialdemokraten, wie sie ja schon in dem bekannten Sozialistengesetz von 1887/88 vorgesehen war, sich sehr wohl fühlen würden, das bezweifeln wir gar nicht. Aber eine solche Maßregel ist auch von Ihrem Standpunkt aus, Sie mögen wollen oder nicht, unausführbar. Sollten Sie eine solche Maßregel wirklich einmal durchzuführen versuchen, dann werden Sie doch finden, daß die Sozialdemokratie nicht mit solchen Mittelchen aus der Welt zu schaffen ist. Es geht eben mit der Sozialdemokratie wie mit den Drachenzähnen des Kadmus: wo immer sie ausgesät wird, wächst sie immer neu; wie die Myrmidonen kommen sie in Schaaren hervor. Sie, meine Herren, können nicht mehr verhindern, daß wir die sind und die bleiben, wie ich später Ihnen noch nachweisen werde. Ohne Ihre bürgerliche Gesellschaft und ohne die schöne Ordnung in dieser Ihrer bürgerlichen Gesellschaft bestände die Sozialdemokratie überhaupt nicht. Ihre Gesellschaft liefert erst den Boden für die Sozialdemokratie. Und in dem Maße, wie dieser Boden in unserem Sinne immer fruchtbarer wird dadurch, daß die bürgerliche Gesellschaft sich immer mehr kapitalistisch entwickelt, das Kapital sich konzentrirt, wächst der sozialdemokratische Gedanke in den Klassen, und damit wachsen die sozialdemokratischen Anhänger, nimmt die Sozialdemokratie an Macht und Einfluß zu, bis sie schließlich die ausschlaggebende Gewalt in Staat und Gesellschaft geworden ist.
(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten. – Oh! oh! rechts.)
Nun hat Herr Dr. Bachem gesagt: ihr Sozialdemokraten kritisirt
nur immer, Vorschläge könnt ihr nicht machen,
was habt ihr denn überhaupt für Mittel, um die
bestehenden Verhältnisse zu ändern? Meine Herren,
wir haben in allen Reden, die wir hielten, und zwar sowohl da, wo
wir Verbesserungsvorschläge, sei es zu bestimmten Gesetzentwürfen
oder solche durch Einbringen neuer Gesetze, machten, stets betont
und betonen es immer wieder, daß das, was wir vorschlagen,
und was wir Ihnen zumuthen auf dem Boden der heutigen Gesellschaft
durchzuführen, allerdings alles nur Palliativmittel seien;
sie würden bis zu einem gewissen Grade helfen, aber dauernd
und gründlich zu helfen vermöchten sie nicht.
Und zwar weil eine gründliche Hilfe bedingte, daß die
heutige Gesellschaft ihrem ganzen Wesen nach umgestaltet werde,
eine Zumuthung, die wir an Sie, die Vertreter der herrschenden Klassen,
nicht stellen werden. Sie sind mit allen Ihren Interessen aus das
innigste mit den bestehenden Zuständen in Staat und Gesellschaft
verwachsen, und so wäre es, von Ihrem Standpunkt aus betrachtet,
wenn wir Ihnen eine solche Umgestaltung zumuthen
(Zustimmung bei den Sozialdemokraten.)
Im Laufe der Entwicklung treten eben Faktoren auf aus den unzufriedenen Schichten – bisher sind sie stets erschienen –, die zum Konflikt mit den bestehenden Zuständen treiben. Die Erkenntniß von der Unhaltbarkeit dieser Zustände nimmt an Macht zu und greift so mächtig um sich, daß eines Tages ihre Anhänger, sei es in dieser, sei es in jener Weise, sei es auf sogenanntem gesetzlichem, sei es auf sogenanntem revolutionärem Wege, die Dinge von Grund aus umgestalten, und zwar im Interesse der notleidenden Mehrheit. Und das wird auch wieder so kommen.
Meine Herren, welche Vorschläge zur Abhilfe haben wir nun zunächst gemacht? Wir haben nicht allein hier, sondern auch in den Versammlungen der Arbeitslosen eine Reihe von Vorschlägen gemacht, die, wenn sie von den Reichs- und Staatsgewalten und namentlich auch von den Gemeindebehörden, kurz von den öffentlichen Gewalten zur Ausführung gebracht wurden, in hohem Grade dazu beitrugen, die gegenwärtige Nothlage großer Massen der Bevölkerung wenigstens zu mildern.
Wir haben insbesondere vorgeschlagen die Inangriffnahme öffentlicher Arbeiten;
wir haben verlangt, daß der Kredit von 200 Millionen, den
gegenwärtig der preußische Eisenbahnminister zur
Verfügung hat, aber leider nicht in Anspruch nimmt, flüssig
gemacht werde, um mit aller Energie die neuen Eisenbahnbauten ins
Leben zu rufen, und daß in gleicher
Für alle diese Dinge hat aber die Staatsverwaltung nahezu gar kein Interesse; sie läßt sich nur mit der größten Mühe bewegen, solche Arbeiten in Angriff zu nehmen, weil in vielen Fällen mehr oder weniger, namentlich durch Arbeiten wie die letzt angeführten, das Interesse unserer Großgrundbesitzer in Frage gezogen wird.
Wir haben weiter verlangt, daß durch eine erhebliche Verkürzung der Arbeitszeit, etwa auf 8 Stunden täglich, dazu beigetragen werde, daß eine große Zahl von Arbeitern eingestellt werden könne, damit die notleidenden Arbeiter von der Straße weggenommen werden. Kurz, wir haben die verschiedenen Hilfsmaßregeln vorgeschlagen, um die beschäftigungslosen Arbeiter nach Möglichkeit zu verwenden. Wir haben also auf dem Gebiete des Nothstandes alles gethan, was wir zu thun in der Lage waren. Auf dem Gebiete der Reformen haben wir ferner, so lange wir in namhafter Zahl hier im Reichstage sind, unsererseits nach Kräften dahin gewirkt, auf dem Boden der bestehenden gesellschaftlichen Zustände die Lage der Arbeiter so weit zu bessern, als das überhaupt möglich ist.
Von diesem Gesichtspunkte ausgehend, haben wir seit ungefähr
15 Jahren bei jeder wichtigen Gesetzesvorlage, die im Reichstage
für eine Verbesserung der Arbeiterlage eingebracht wurde,
uns nicht nur lebhaft an der Debatte betheiligt, sondern auch durch
Stellung von Anträgen zu den Vorlagen, wie durch die Einbringung
vollständig neuer Gesetz-
(Zustimmung bei den Sozialdemokraten.)
Weiter haben wir verlangt die Abschaffung der Lebensmittelzölle, weil nach unserer Meinung der Arbeiter es ist, welcher besonders darunter leidet. Bei der Unfallversicherungs-, der Alters- und Invaliditätsversicherungsgesetzgebung haben wir in sehr umfassendem Maße unsere Gegenanträge gestellt, und wären diese unsere Anträge angenommen worden, so ist sicher, daß diejenigen, die Unterstützungen auf Grund dieser Gesetze bekommen, sie in höherem und ausgiebigerem Maße bekommen würden, als es gegenwärtig der Fall ist.
(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.)
Wenn nun alle diese Anträge und Forderungen nicht durchgingen und nicht Gesetz geworden sind, so sind sie allein an Ihrem Widerspruch gescheitert und nicht an unserem Verhalten.
(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.)
Noch einmal also: sind diese Vorschläge bisher nicht
zur Geltung gekommen, und sind alle unsere Bemühungen,
in unserem Sinne auf dem Boden der heutigen Gesellschaftsordnung
Verbesserungen zu erzielen, von keinem Erfolg gekrönt worden,
so lag das daran, daß Sie, die Vertreter der herrschenden
Parteien, gegen uns gestimmt haben. Wir sind noch zuletzt, bei der
Berathung der Militärvorlage mit Vorschlägen herangetreten,
die nach unserer Meinung einmal dazu beitragen, in viel gerechterer
Weise, als es gegenwärtig der Fall ist, die Militärlasten
auf die Schultern der einzelnen Staatsbürger zu vertheilen,
und andererseits durch die von uns vorgeschlagene Organisation die
schweren Militärlasten, die das gegenwärtige Militärsystem
Deutschland auferlegt, in sehr bedeutendem Maße zu reduziren.
Weiter sind wir bei jeder sich darbietenden Gelegenheit für die
Erweiterung und Aufrechterhaltung der Rechte der Arbeiter eingetreten
und werden es weiter thun. Und gerade der Umstand, daß wir
in allen diesen Beziehungen praktisch eingetreten sind, daß wir,
ganz unbeschadet unseres sonstigen prinzipiellen Standpunkts der
heutigen Staats- und Gesellschaftsordnung gegenüber, versuchten,
auch auf dem Boden dieser Gesellschaftsordnung für die
Verbesserung der arbeitenden Klassen einzutreten, hat es hauptsächlich
herbeigeführt, daß die Sozialdemokratie eine so
große Anhängerschaft in der deutschen Arbeiterbevölkerung
gewonnen hat, wie sie dieselbe gegenwärtig
(Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.)
Sie werden finden, daß trotz aller Broschüren Eugen Richters mit seiner Spar-Agnes
(Heiterkeit),
die Sie zu Hunderttausenden gratis unter die Arbeiter vertheilen ließen, und obgleich Sie in München-Gladbach eine förmliche Universität errichteten, um Lehrer und Agitatoren auszubilden – ja auch Agitatoren, Herr Abgeordneter Bachem, Sie machen uns alles nach! –
(Heiterkeit und Zustimmung bei den Sozialdemokraten)
die volkswirthschaftlich und politisch auf allen Gebieten wohl
(Sehr richtig bei den Sozialdemokraten.)
Und wenn Sie demnächst dazu übergehen, Ihren Antrag auf Aufhebung des Jesuitengesetzes zu begründen und diesen – das wissen wir voraus – wesentlich dadurch begründen: die Jesuiten seien eine vorzügliche Macht zur Bekämpfung der Sozialdemokratie, – dann werden Sie erleben, daß alle meine Fraktionsgenossen einstimmig für die Aufhebung des Jesuitenausweisungsgesetzes eintreten, weil wir sie nicht fürchten mit allem was drum und dran hängt.
(Zwischenruf.)
– Jawohl, nur her mit den Jesuiten, wir fürchten sie wirklich nicht!
(Große Heiterkeit.)
Damit habe ich, denke ich, genügend nachgewiesen, welcher Art die Abhilfmittel sind, mit denen wir, immer vom Boden der heutigen Gesellschaftsordnung ausgehend, Ihnen gegenübertreten, die wir als nothwendig vorgeschlagen haben und weiter vorschlagen werden. Und das begreifen die Arbeiter. Sie begreifen es aber nicht nur, sondern sie haben auch angefangen, Vergleiche anzustellen zwischen dem, was wir verlangt haben, und dem, was Sie durchgeführt haben, und dieser Vergleich fällt immer mehr zu Ihrem Schaden aus.
Dann hat der Herr Abgeordnete Bachem weiter gemeint: „wie
könnt ihr euern sozialistischen Staat aufrichten, da ihr
nicht einmal im Stande seid, eine sozialistische Bäckereigenossenschaft
zu leiten? da seht, welcher Krakehl hier in Berlin in
Mir wird von allem dem so dumm.
Als ging
mir ein Mühlrad im Kopfe herum.
(Sehr gut! links.)
Denn was Sie hier als Weisheit und Quintessenz aus den sozialistischen Schriften angeführt haben, das suche ich darin vergebens; und wenn Sie überhaupt die sozialistischen Schriften so studirt hätten, wie Sie es nicht gethan haben, Herr Dr. Bachem, dann hätten Sie die Rede vom letzten Dienstag gar nicht halten können.
(Sehr gut! links.)
Denn etwas Oberflächlicheres, Platteres, als die Ausführungen, die Sie gemacht haben als Volksvertreter im Deutschen Reichstag und dabei unter dem Beifall der großen Majorität, das, muß ich sagen, habe ich nie für möglich gehalten. Ich bin im Zweifel, ob in irgend einem anderen Parlament der Welt es möglich sein würde, daß man solchen Ausführungen den lebhaftesten Beifall zollt. Imponirt hat mir gerade nicht eine solche Unkenntniß des Deutschen Reichstags von dem, was die Sozialdemokratie will. Daher wird es nothwendig sein, Ihnen
(Heiterkeit links.)
Gerade aus Ihren Ausführungen, Herr Abgeordneter Bachem, habe ich ersehen, wie vollständig ununterrichtet Sie eigentlich sind über das, was die Sozialdemokratie ist und will.
Aber Herr Dr. Bachem ist – und dabei muß ich ein wenig verweilen – auf die berühmte Bäckereigenossenschaft zu sprechen gekommen, die sogenannte sozialistische. Sie scheinen gar nicht zu wissen, daß es sozialistische Genossenschaften heute nicht giebt, daß sie gar nicht existiren können, daß, eine „sozialistische" Genossenschaft etwa als Gegenmittel gegen die bürgerliche Gesellschaft an einem Orte zu gründen, von uns als Wahnsinn erklärt wird. Was sich innerhalb unserer Partei als Genossenschaft aufgethan hat, steht aus dem Boden der sogenannten Schulze-Delitzschschen Bestrebungen der Selbsthilfe.
(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.)
Wir sagen und haben es jederzeit gesagt: wir unterstützen derartige Genossenschaften von Parteiwegen nie und nimmer; wir können – in dieser Beziehung hat der letzte Berliner Parteitag mit der wünschenswerthesten Offenheit gesprochen – unter keinen Umständen es billigen, daß unsere Parteigenossen Mittel und Kräfte dazu verwenden, Genossenschaften ins Leben zu rufen, in dem Glauben, daß sie, sei es für sich oder ihre Klassengenossen, damit einen wesentlichen Vortheil erringen. Wir können die Gründung einer Produktivgenossenschaft nur von dem Standpunkte aus gutheißen, daß dieselbe entweder den Zweck hat, sozialistische Literatur herzustellen und zu verbreiten, weil es sonst an einem Ort keine Möglichkeit giebt, diese zu drucken, oder daß sie den Zweck hat, gemaßregelten Arbeitern in einer Form wieder Stellung zu schaffen und sie zu beschäftigen, wie es sonst nicht möglich ist. Das sind die einzigen Ausnahmen, aus denen wir bisher solche Genossenschäften zwar nicht unterstützt, aber geduldet haben.
(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.)
Sehen Sie also, wir haben mit diesen Dingen nichts zu thun, sie gehen uns nichts an; wir betrachten sie als keinerlei Hebungsmittel für die soziale Lage der Arbeiterklasse an sich, höchstens als ein Hebungsmittel für vereinzelte Genossen. Wenn Sie aber glauben, aus einer vielleicht übelgeleiteten Produktivgenossenschaft, die Sie nur daher kennen, weil dieselbe öffentlich kritisirt wurde, wie das nun einmal in der Natur der öffentlichen Erörterung liegt, die bei den Arbeitern und bei uns Sozialdemokraten Sitte ist, und weiter glauben, weil bei der betreffenden Bäckereigenossenschaft vielleicht wesentlich Sozialdemokraten betheiligt sind – daraus auf die Befähigung der Sozialdemokraten ein Geschäft zu leiten schließen zu können, dann irren Sie sich wieder. Im Gegensatz zu jener Genossenschaft hier in Berlin, in der jene Szenen vorkamen und jene Anklagen erhoben wurden, die Sie erwähnten, könnte ich Ihnen mindestens ein Dutzend und mehr Genossenschaften in Deutschland nennen, die in der ausgezeichnetsten Weise geleitet werden und in ihrer Art ganz Vorzügliches leisten.
Wir haben z. B. in Hamburg im Gegensatz zur Berliner
Aber damit ist in gar keiner Weise weder für noch gegen unsere Prinzipien ein Beweis erbracht; weder spricht die Bäckereigenossenschaft, die schlecht verwaltet wird, gegen uns, noch die vielen Genossenschaften, die gut verwaltet und vorzüglich prosperiren, sprechen für uns, die nehmen wir für uns nicht in Anspruch. Wir betrachten sie als im ganzen für die große Bewegung gleichgiltige Institutionen, die mit ihr nichts zu schaffen haben; genau, wie wir den Konsumvereinen, von denen auch erwähnt wurde, daß sie von Sozialdemokraten geleitet und ins Leben gerufen werden, vollständig neutral gegenüberstehen. Wir legen dem Vortheil, den diese ihren Mitgliedern verschaffen, gar kein Gewicht bei, weil wir der Meinung sind, sie haben gegenüber den großen Umgestaltungen, die in Frage kommen, um die Arbeiterklassen als solche von dem bestehenden Lohnsystem zu befreien, und den Klassenstaat als solchen zu beseitigen, gar keine Bedeutung.
Dann hat der Herr Abgeordnete Dr. Bachem weiter auch Bezug genommen auf
die Gehaltsfrage meines Freundes Liebknecht. Daß man eine
solche Sache, Herr Dr. Bachem, vor das Forum des Reichstags schleppt,
das ist stark; ich muß sagen, es ist mir ordentlich widerlich,
darauf einzugehen.
(Sehr richtig! links. Widerspruch im Zentrum.)
Nachdem aber einmal diese Frage hier erörtert worden ist, so muß ich ja wohl darauf eingehen.
Was ist denn passirt? Nicht 10 000 Mark, sondern 7200 Mark haben wir unserem Freunde Liebknecht, wir als Parteivorstand, bewilligt, nachdem er, man darf wohl sagen, ein ganzes Menschenalter hindurch unentwegt in der Partei gestanden und für einen Hungerlohn zu arbeiten genöthigt war. Da haben wir, als wir endlich in der Lage waren, ein Gehalt ihm bezahlt, das anständig genannt werden darf, das aber nach den in Berlin an die ersten Redakteure der hier bestehenden Blätter gezahlten Honoraren als niedrig angesehen werden muß. Alle ersten Redakteure hiesiger Blätter bekommen ein Durchschnittsgehalt, das weit höher ist als das Liebknechtsche; und wenn Sie den Herrn Kollegen von Hammerstein fragen wollten, was er als erster Redakteur der Kreuzzeitung bezieht
(Heiterkeit),
er wird antworten: für eine Lappalie, wie sie Herr Liebknecht hat, gebe ich meine Arbeitskraft für die Kreuzzeitung nicht her; und da hat er am Ende recht. Er ist der Redakteur eines großen konservativen Bourgeoisunternehmens; und wenn er statt 7200 Mark 20- oder 30 000 Mark beziehen kann, so nehme ich ihm das nicht übel, beneide ihn aber auch nicht darum.
(Heiterkeit.)
Aber, meine Herren, wer hat diese Sache in die Oeffentlichkeit getragen? Nicht unsere „Jungen", nein die bürgerliche Presse. Die bürgerliche Presse ist so unanständig gewesen, aus der Thatsache, das hier und da in Parteikreisen eine kleine Unzufriedenheit über jenes Gehalt entstand, von dem wir überzeugt waren, daß es im stärksten Mißverhältniß zu denjenigen Einkommensverhältnissen stehe, mit denen der größte
(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.)
Dieselben Redakteure, die ein ganz anderes Gehalt beziehen als die unsrigen, haben sich dazu hergegeben, in gehässiger Art gegen Liebknecht und das von ihm bezogene Gehalt loszuziehen, und versuchten innerhalb unserer eigenen Partei Propaganda gegen Liebknecht zu machen.
(Unruhe rechts und im Zentrum.)
Meine Herren, Sie müssen freilich zu solchen Mittelchen greifen, weil Sie mit großen, anständigen Mitteln überhaupt nicht mehr gegen uns zu kämpfen im Stande sind.
(Oho! – Glocke des Präsidenten.)
Vizepräsident Dr.
Abgeordneter
Weiter hat der Herr Abgeordnete Bachem lebhaft bemängelt,
daß wir keine Autorität hätten. „Wer
ist denn eigentlich die Autorität bei Ihnen?" rief er uns
zu, „ist es Bebel, ist es Liebknecht, ist es Singer? Niemand.
Es giebt
Sehen Sie, meine Herren, das ist eben der große Vorzug, daß wir keine Autoritäten besitzen. Wenn bei uns eine Autorität besteht, dann ist das die selbsterworbene Autorität der einzelnen Personen, das ist die Autorität, die der Einzelne sich erwirbt durch seine Thätigkeit, durch seine Fähigkeiten, durch seine Opferwilligkeit, durch seine Hingabe für die Sache. Keine andere giebt es; eine künstliche, eine gemachte Autorität kennen wir nicht. Und die Parteigenossen, die einen Mann vor sich zu haben glauben, der ihre Interessen voll und ganz vertritt, übertragen ihnen selbstverständlich die Vertrauensstellungen, die sie zu vergeben haben, und nur insofern kommen diese in eine gewisse autoritative Stellung. Aber wie wenig diese autoritative Stellung von entscheidender Bedeutung ist, sehen Sie auf jedem unserer Parteitage. Muß nicht dort Liebknecht, muß nicht ich, muß nicht jeder unter uns sich gefallen lassen, von dem letzten unserer Genossen, wenn ich diese Unterscheidung einmal machen darf, in einer Weise vorgenommen zu werden, wenn er Dinge gemacht hat, die dem Einen oder Andern nicht behagen, wie das in keiner anderen Partei jemals vorkommt? Und wir, meine Herren, empfinden das nicht einmal unangenehm, wir finden es vielmehr ganz in der Ordnung und natürlich, daß der einzelne Genosse von seinem Rechte, seine abweichende Meinung uns gegenüber geltend zu machen, umfassenden Gebrauch macht und seine Anschauung uns gegenüber vertritt.
Also die geschaffenen und künstlich erhaltenen Autoritäten
bekämpfen wir und zwar mit Recht. Wir sind gegen alle Autoritäten,
gegen die himmlischen, wie gegen die irdischen, die Sie uns gegenüberstellen,
und mit denen Sie bisher die Massen am Leitseil geführt
haben und noch zu führen versuchen. Das ist der ungeheuere
Gegensatz, in dem wir uns zu Ihnen befinden. Und wenn Sie im Gegensatz
zu der mangelnden Autorität, die Sie bei uns sehen, von „sozialdemokratischer
Tyrannei" sprechen, so ist das auch wieder eine von den Behauptungen,
für die Sie keine Beweise haben. Auf der einen Seite Mangel
Meine Herren, daran anknüpfend, kam man dann auf die Frage nach dem „Zukunftsstaat". Es waren die Herren Dr. Buhl, Dr. von Boetticher und Bachem, die diese Frage gleichzeitig stellten. Als ich Herrn Dr. von Boetticher in die Tonart des Herrn Bachem und Dr. Buhl einstimmen hörte, dachte ich anfangs: es thut mir weh, daß ich dich in der Gesellschaft seh.
(Heiterkeit.)
Denn in der 27. Sitzung, in der Abgeordneter Schrader unsere Partei angriff wegen unserer Stellung zu den Abzahlungsgeschäften, war es Herr Dr. von Boetticher, der in einer Art, die unseren lebhaftesten Beifall fand, unsere Partei gegen die Anschuldigung und Unterstellung des Dr. Schrader in Schutz nahm.
(Heiterkeit.)
Wir haben, wie gesagt, ihm dafür Beifall gezollt, und
ich sagte mir damals: wenn ihr einmal künftig in die Lage
(Hört! hört! links. Lebhafte, lang andauernde Heiterkeit.)
Meine Herren, ich muß nun freilich jenes Lob sofort einschränken; denn am letzten Dienstag hat er es wahrhaftig nicht verdient. Da hat Herr Dr. von Boetticher eine Stellung eingenommen, die ganz entgegengesetzt der gegenüberstand, die er in der Sitzung vom 27. Januar eingenommen hatte. Am Dienstag sagte auch er: was wollt ihr denn eigentlich mit eurem sozialdemokratischen „Zukunftsstaat"? Ich könnte diese Frage, die auch Herr Bachem stellte, wenn ich niederträchtig sein wollte, mit einer anderen Frage an Herrn Bachem beantworten, indem ich ihn fragte: wie stellen Sie sich denn die Auferstehung nach dem Tode und das ewige Leben vor
(Unruhe und Zuruf),
– über welche seit 18 Jahrhunderten Ihre Kirche gepredigt und bis heute keine Beweise dafür erbracht hat – ?
(Zuruf.)
– Sie werden mir mit keinen Beweisen antworten können.
(Zuruf.)
– Doch? Da bin ich wirklich sehr gespannt. Das wird eine Beweisführung werden, auf die ich außerordentlich neugierig bin. Meine Spannung darauf ist größer als die Ihre gegenüber mir in Bezug auf meine Auseinandersetzungen über den „Zukunftsstaat."
(Heiterkeit.)
(Lebhafte Bewegung und Zurufe. – Oho!)
– Meine Herren, ich wußte ja, daß Sie da allerlei zurufen würden. Ich sage noch einmal: Sie hätten diese Frage nicht stellen können. Ich gebe zu, daß Sie vor 10, 12, 15 Jahren eine solche Frage stellen konnten, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil die Sozialdemokratie damals in ihrer theoretischen Entwicklung noch erheblich hinter ihrem heutigen Standpunkte zurückstand. Wir sind nicht nur eine, wie Sie sagen, revolutionäre Partei, wir sind auch eine vorwärts strebende Partei, eine Partei, die beständig lernt, und die in beständiger geistiger Mauserung begriffen ist
(große Heiterkeit),
eine Partei, die nicht die Meinung hat, daß ein heute
ausgesprochener Satz und eine heilte als richtig gehegte Anschauung
unzweifelhaft und unfehlbar für alle Ewigkeit feststeht.
Sehen Sie, meine Herren: wir haben, seitdem in Deutschland die Sozialdemokratie
besteht – es sind jetzt 30 Jahre seit dem Auftreten Lassalles
verflossen –, eine ganze Reihe geistiger Mauserungen durchgemacht.
Da hatten wir zuerst das Lassallesche Programm, die Lassalleschen
Theorien mit den Auffassungen Lassalles vom Staate, die noch ganz
in der alten Auffassung der deutschen Philosophie seit Fichte befangen
waren; beachten Sie weiter die Mittel, die Lassalle vorschlug in
Bezug auf die Hebung der Arbeiterklasse, die Gründung sogenannter
Staatswerkstätten, richtiger die Gründung von
großen Genossenschaften
Lange hat die Partei auf diesem Boden gestanden, bis sie zuerst
in den fortgeschrittenen Köpfen sich hiervon loslöste
und sie endlich auf dem Parteitage zu Erfurt vor 2 Jahren dazu überging,
das neue Programm aufzustellen, das vollständig mit der
früheren Auffassung vom sozialdemokratischen Staate gebrochen
hat. Ich erinnere ferner als Zeichen unserer Entwicklung an das
Programm des Verbandes der Arbeitervereine von 1868 in Nürnberg,
an deren Spitze ich damals stand, an das Programm der sozialdemokratischen
Arbeiterpartei in Eisenach 1869, an das Gothaer Programm von 1875,
das allerdings im wesentlichen das 1869 er Programm war, als die
beiden Faktionen, die Lassalleaner und die Eisenacher, sich vereinigten;
endlich bekamen wir 1891, wie bemerkt, auf dem Parteitag zu Erfurt
das gänzlich neue Programm, das nunmehr für die
Gesammtpartei diejenige Richtschnur schuf, die theoretisch seit
langem die wissenschaftliche Literatur und die vorgeschritteneren
Männer in unserer Partei aufgestellt
Also, die sozialistische Literatur über die letzten Ziele der Partei ist vorhanden; und der Herr Abgeordnete Bachem, indem er – ich komme wieder darauf zurück – davon sprach, daß er die sozialistische Literatur kenne, – er kennt sie nicht. Denn, wenn er nur das kleine Broschürchen, das ich hier in meiner Hand halte und das gegenwärtig in 4. Auflage in der hiesigen „Vorwärts"- Buchhandlung erschienen ist, aber vor mehr als 12 Jahren zuerst herauskam, gelesen hätte, so würde er auf Seite 40 – es ist das Schriftchen „Die Entwicklung des Sozialismus von den Utopien zur Wissenschaft" von Friedrich Engels – eine längere Auseinandersetzung finden, worin Engels die beim ersten Erscheinen der Schrift noch allgemein vorhandene Auffassung von dem sozialdemokratischen Volksstaat bekämpft und ausführt, daß in letzter Entwicklung für den Sozialismus es sich nicht mehr um den Staat handelt, sondern um die Aufhebung des Staats, um die Schaffung einer Organisation der Verwaltung, der nichts obliege, als die Leitung von Produktions- und Austauschprozessen, also einer Organisation, die mit dem heutigen Staat nichts mehr zu thun hat.
Weiter ist außer den ausgezeichneten Ausführungen,
die aus dem letzten Theil des I. Bandes des „Kapital" von
Marx hier einschlagen, auf die ich hier nur verweise, in erster
Linie zu nennen die vorzügliche, zuerst 1877 erschienene
und seitdem in vielen Auflagen verbreitete Schrift von Engels „Herr
Eugen Dühring und die Umwälzung der Wissenschaft",
weiter die sehr instruktive und außerordentlich interessante,
auch in der Wissenschaft von allen Seiten als vorzüglich
anerkannte Schrift von Friedrich Engels „Der Ursprung der
Familie, des Privateigenthums und des Staates," dann das Kautskysche
Buch „Das Erfurter Programm", und endlich diejenigen Ausführungen,
die ich selbst zum Theil in Anlehnung an die Darlegungen meines
Freundes Engels in meinem Buche „Die Frau" gemacht habe.
Es sind dies alles Ausführungen,
(Heiterkeit.)
Meine Herren, ich sage Ihnen offen, daß ich seine Militärreden und seine Budgetreden, auch sein A-B-C-Buch mit viel mehr Genuß
(große Heiterkeit)
und mit mehr Nutzen für meine Belehrung – denn ich lerne auch vom Gegner gern, wenn er etwas Lernenswerthes bringt – gehört und gelesen habe, als was in dieser Broschüre über die Sozialdemokratie herausgekommen ist. Wir haben durch dieselbe nur eine typische Figur für unsere Witzblätter bekommen, die „Spar-Agnes", von der unsere Witzblätter seit Jahren zehren, und die auch in unseren Privatunterhaltungen nicht selten ein Thema des Amüsements bildet.
(Heiterkeit.)
Aber, meine Herren, weiter mich hier auf eine Auseinandersetzung und Widerlegung derselben einzulassen, das hieße wahrhaftig Eulen nach Athen tragen; das ist auch verschiedentlich geschehen, nicht von mir, aber von anderen. Aber eines will ich Ihnen anführen – und das ist charakteristisch für den agitatorischen Werth dieser Schrift, die von Ihnen, d. h. von Ihren Freunden draußen im Lande, in Hunderttausenden
(Heiterkeit.)
Dann sagte er, er habe sie auch gelesen, er habe sich bisher um die Sozialdemokratie garnicht gekümmert, aber sich doch gesagt: solchen Unsinn kann die Sozialdemokratie unmöglich wollen; und da sei er heute in die Versammlung gegangen und habe mich gehört, und da habe er gefunden, daß das bestätigt sei, was er sich gedacht, und von jetzt ab sei er Sozialdemokrat. Sehen Sie, meine Herren, das ist auch ein Beispiel dafür, wie die Verbreitung derartiger Schriften für die Sozialdemokratie wirkt.
„Nun, wenn ihr den sozialdemokratischen Zukunftsstaat
nicht wollt," werden Sie sagen, „ja, was wollt ihr denn?"
Da bin ich zunächst genöthigt, mit einigen Worten
auf den Begriff des Staats einzugehen, wie wir ihn nach den neusten
Forschungen der Wissenschaft auffassen. Meine Herren, über
das Wesen des Staats ist schon sein Jahrhunderten Und länger gestritten
worden. Seit Plato und Aristoteles haben
Regel gleichzeitig von der vorhandenen Priesterschaft, die
So sehen Sie also, meine Herren, – und daher unsere
materialistische Geschichtsauffassung, – daß in
dem Maße, wie innerhalb einer gegebenen Gesellschaft bestimmte
Produktionseinrichtungen existiren, und diese Gesellschaft ihre
Austauschbeziehungen dementsprechend regulirt, in demselben Maße
auch die Staatsgewalten und die Staatsformen sich ändern
und umgestalten. Die Gesellschaft, die Jahrtausende auf dem Boden des
Privateigenthums stand, die Gesellschaft, die aus dem alten antiken Staat,
aus dem Feudal- und absoluten Staat zur bürgerlichen Gesellschaft sich
entwickelte, mußte mit ihren immer mehr zunehmenden und
sich verzweigenden sozialen Beziehungen auch selbstverständlich
die Staatsverwaltung einer totalen Umgestaltung unterwerfen. Und,
meine Herren, daß in der neueren Zeit, in allen Kulturländern
der Erde sich das Bestreben geltend machte – in dem bürgerlich
vorgeschrittensten Land England in erster Linie –, die
Herrschaft unserer großen und kleinen Feudalherren immer
mehr und mehr zu brechen und an die Stelle der kleinen Territorien
dieser Herren die großen Zentral- und Nationalstaaten zu
setzen, entsprach dieser ökonomischen Entwicklung. Also
diese letztere Entwicklung speziell ist niemand anders als den materiellen
Interessen
Das ist in großen Zügen das Entwicklungsbild unseres Staatswesens, und von diesem Gesichtspunkt aus erklärt sich auch, daß die jeweilige Staatsgewalt nichts anderes ist als der Ausdruck der Interessengemeinschaft der herrschenden Klassen in einem bestimmten Staat. Als ich daher vor ein paar Jahren an dieser Stelle – ich glaube es war in einer Budgetrede – den Ausspruch that: wer sind denn eigentlich die Herren im Bundesrath und in den Regierungen? sie sind in Wahrheit nichts weiter als der Verwaltungsausschuß der Interessen der besitzenden Klassen, – war es Herr von Boetticher, der im vollkommenen Einverständniß und in Würdigung seiner eigenen Stellung als Verwaltungsausschußmitglied der herrschenden Klassen mir zurief: sehr richtig!. Nun, meine Herren, ist das aber der Fall, ist die Staatsgewalt nichts anderes, als daß sie die Gesellschaftsinteressen der herrschenden Klassen repräsentirt, daß sie dafür zu sorgen hat, daß diese nicht angetastet werden, daß sie ein bestimmtes Rechtssystem schafft, durch das die aus den ökonomischen Verhältnissen sich ergebende Rechtsordnung möglichst fest und gesichert aufrecht erhalten wird, dann ist es auch klar, daß, wenn einmal ein Zeitpunkt kommt, wo die Klassengegensätze aus der Welt geschafft werden können und werden, auch die Staatsgewalt aufhört zu existiren, weil sie keine Aufgaben mehr vor sich hat.
(Zuruf.)
– Meine Herren, es wird mir zugerufen: oho! Ich kann nicht verlangen, daß ich Sie mit meinen sehr aphoristisch ge-
(Sehr richtig! rechts.)
– Sehr richtig! rufen Sie, – das weiß ich; ich gebe Ihnen auch zu: das allgemeine Stimmrecht, d. h. die demokratische Anerkennung der Gleichheit aller Staatsbürger ohne Unterschied des Standes, des Besitzes, der religiösen Auffassung und der Geburt steht allerdings in direktem Gegensatz zu unseren ungleichen Besitzverhältnissen. Eine Gesellschaft, die auf der Klassenherrschaft beruht, die nur durch Klassengegensätze existirt, die bemüht sein muß, diese Klassengegensätze aufrecht zu erhalten bei Strafe ihres eigenen Unterganges, diese kann die allgemeine Rechtsgleichheit nicht mit gutem Willen gewähren; denn damit ist ein Moment gegeben, das auf ihre eigene Zerstörung und ihren Untergang hinwirkt.
(Sehr richtig! rechts.)
Das allgemeine Stimmrecht arbeitet auf die Demokratisirung des Staates, der Staatsgewalt und auf die Umgestaltung der sozialen Verhältnisse hin.
Ich sage Ihnen das ganz offen, selbst auf die Gefahr hin, daß Sie diese meine Ausführungen nächstens einmal bei einem Antrag auf Aufhebung des allgemeinen Stimmrechts benutzen, um Kapital daraus zu schlagen. Thun Sie es nur, – wir wissen doch, wo wir bleiben, und wohin wir zuletzt kommen werden, Sie mögen machen, was Sie wollen!
Nun, meine Herren, werden Sie fragen: „wie denkt ihr
euch denn die Fortentwicklung?" Meine Herren, wie haben Sie denn
Ihren heutigen Staat geschaffen? Daß der heutige Staat
nicht dem von vor hundert Jahren ähnlich sieht, werden
Sie mir ohne weiteres zugeben. Wie stimmen aber die heutigen Zustände
mit dem Gemälde, das vor hundert Jahren und noch vor Jahrzehnten
Ihre Vorkämpfer von diesem neuen bürgerlichen
Staat entwickelt haben? Lesen wir, was vor der französischen
Revolution über die Nothwendigkeit der Umgestaltung des
Feudalstaats in einen konstitutionellen Staat, d. h. in einen Staat
des Bürgerthums, geschrieben wurde, was da alles sich entwickeln
werde, was nothwendig wäre, und vergleichen wir es mit
der Wirklichkeit, dann finden wir einen mächtigen Unterschied.
Daß wir kein solches Gemälde heute mehr geben,
das kommt daher, weil wir die Gesetze der Entwicklung, durch welche
unsere Gesellschaftsordnung mehr und mehr ihrer Weiterentwicklung
und ihrer Vervollkommnung, aber auch ihrem endlichen Untergang entgegengeht, im
Gegensatz zu Ihren Vorfahren genau kennen. Wie Ihre eigenen Vorfahren
auf dem Gebiet des Staatswesens Utopisten waren und Schilderungen sich
erlaubten, die mit den später eingetretenen thatsächlichen
Verhältnissen in gar keinem Einklang standen, ebenso auch
diejenigen Männer, die als Sozialisten in gewissem Sinne
unsere Vorkämpfer waren und auch ihrerseits solche Gemälde
veröffentlicht haben. Ich rede gar nicht mehr von Plato;
gehen wir nur zu Thomas Morus über, der im 16. Jahrhundert
in dem damals bürgerlich vorgeschrittenen England lebte;
gehen wir über zu Campanelli, zu Morelli im vorigen Jahrhundert,
(Heiterkeit.)
Das ist gerade der große Unterschied zwischen uns und
jenen: jene waren Utopisten, und wir, wir sind praktische Leute;
jene waren Männer, die entsprechend ihrem unentwickelteren
Zeitalter, von der Auffassung ausgingen, es sei nur nöthig,
daß man den herrschenden Klassen darlege, daß die
bestehende Gesellschaftsordnung ungerecht, unwahrhaftig, lügnerisch,
korrupt sei, und daß man nur auf Grund der vorhandenen
Thatsachen darauf brauchte hinzuweisen, daß eine Neuordnung
nöthig sei, und daß man diese Neuordnung in allen
Einzelheiten fertig vorzuführen brauche, um die Menschen
zu bestimmen, die Neuordnung zu begründen. So konnte es
geschehen, daß ein Fourier, einer der geistreichsten Menschen, die
je gelebt haben, 20 Jahre lang Tag für Tag Mittags 12 Uhr
in seiner Wohnung war, um den Mann in Empfang zu nehmen, der ihm
die Million Franken bringen würde, um sein Phalanstsre
ins Leben zu rufen; so fest glaubte er an diese Idee. Er wandte
sich an alle Fürsten Europas, um sie von der Richtigkeit
seiner neu geplanten Gesellschaftsordnung zu überzeugen;
ja, als alles nichts mehr helfen wollte, wandte er, der selber
(Sehr gut! bei den Sozialdemokraten.)
Die bürgerliche Gesellschaft hat nicht ewig bestanden, wie Sie und Ihre Anhänger im Reiche gern den unwissenden Leuten vorzureden pflegen: Sie sagen gern: es ist ewig so gewesen, und weil es ewig so war, wird es ewig so bleiben. Nein, es ist nicht ewig so gewesen. Die bürgerliche Gesell
Weit entfernt, daß wir die bürgerliche Gesellschaft deshalb als unvernünftig bekämpfen, weil sie ist, was sie ist, – wir bekämpfen sie vielmehr in ihren Auswüchsen, um zu zeigen, daß an ihre Stelle eine neue, bessere Gesellschaft treten muß. Wir erkennen an, daß die bürgerliche Gesellschaft im Gegensatz zu allen vorhergehenden Gesellschaften die großartigste Gesellschaft ist, die je bestanden hat. Die bürgerliche Gesellschaft hat eine revolutionäre Umgestaltung in allen Lebensbeziehungen der Menschen herbeigeführt, wie vor ihr keine andere Gesellschaft.
Hören Sie einmal, was meine Freunde Karl Marx und Friedrich Engels in dem bekannten Manifest, das bereits Ansang 1848 erschienen war, über die bürgerliche Gesellschaft sagen!
Die Bourgeoisie hat in der Geschichte eine höchst revolutionäre Rolle gespielt.
Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen,
hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse
zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den
Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften,
unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und
Mensch übrig gelaffen, als das nackte Interesse, als die
gefühllose „baare Zahlung". Sie hat die heiligen
Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung,
der spießbürgerlichen Wehmuth in dem eiskalten
Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat
Die Bourgeoisie hat alle bisher ehrwürdigen und mit frommer Scheu betrachteten Thätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet. Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt.
Die Bourgeoisie hat dem Familienverhältniß seinen rührendsentimentalen Schleier abgerissen und es auf ein reines Geldverhältniß zurückgeführt. Die Bourgeoisie hat enthüllt, wie die brutale Kraftäußerung, die die Reaktion so sehr am Mittelalter bewundert, in der trägsten Bärenhäuterei ihre passende Ergänzung fand. Erst sie hat bewiesen, was die Thätigkeit der Menschen zu Stande bringen kann. Sie hat ganz andere Wunderwerke vollbracht, als egyptische Pyramiden, römische Wasserleitungen und gothische Kathedralen; sie hat ganz andere Züge ausgeführt, als Völkerwanderungen und Kreuzzüge.
Meine Herren, das ist doch das größte Lob, daß man der Bourgeoisie, diesem Repräsentanten der bürgerlichen Gesellschaft, zollen kann.
(Große Heiterkeit.)
Ja, ungeheure revolutionäre Entwicklung auf allen Gebieten
menschlicher Thätigkeit und menschlichen Wissens hat die
Bourgeoisie herbeigeführt wie keine andere Klasse. Und,
in demselben Maße, wie die Bourgoisie sich weiter entwickelt,
geschieht es ihr wie allen anderen leitenden Klassen, in früheren
Gesellschaftsepochen: in dem Maße, wie sie sich weiter
entwikkelt. schafft sie diejenigen Elemente aus ihrem eigenen Leibe,
die ihr
(Oh! oh!)
Die bürgerliche Gesellschaft war erst möglich nach der feudalen Gesellschaft, und die sozialistische Gesellschaft ist erst möglich nach der bürgerlichen Gesellschaft. Wir sind Ihre Erben.
(Oh! – Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.)
Ist das aber der Fall, dann begreifen Sie aber auch wohl, hoffe ich, daß wir diesen ganzen Entwicklungsprozeß nicht künstlich beschleunigen können und nicht künstlich beschleunigen wollen. Es hängt nicht von uns ab, wie die bürgerliche Gesellschaft sich weiter entwickelt; wir können Ihnen nicht vorschreiben, wie Sie, die herrschenden Klassen, arbeiten sollen, damit wir zur Macht und zum Siege kommen. Meine Herren, in dem Maße, wie das Kapital sich konzentrirt, in dem Maße, wie die Großproduktion immermehr überhand nimmt, in dem Maße, wie die kapitalistische Gesellschaft mehr und mehr das Prototyp der gesammten heutigen Gesellschaft wird, in dem Maße, wie die Verarmung der mittleren Schichten um sich greift, und die Proletarisirung der Massen vor sich geht, werden die Klassengegensätze schärfer, werden mit der Proletarisirung der Massen auch neue Gedanken und neue Ideen in ihren Köpfen erzeugt. Daß es vor hundert Jahren keine Sozialdemokraten gab, liegt darin, weil vor hundert Jahren die Existenzbedingungen für die Sozialdemokratie nicht vorhanden waren, nicht diese moderne bürgerliche Gesellschaft bestand, aus der allein die Sozialdemokratie entstehen konnte, weil sie das naturnothwendige Produkt eben dieser bürgerlichen Gesellschaft ist.
Ich meine, das ist eine so einfache selbstverständliche und so naturnothwendige Folgerung, daß ich nicht glaube, daß noch ein einziger Mensch ihr widersprechen kann.
Ist das aber der Fall, dann haben wir heute für uns
nichts weiter zu thun, als dafür zu sorgen, daß die
Massen
Hören Sie einmal, wie, anknüpfend an das Erfurter Programm und seine Beschlüsse, Professor Delbrück in den „Preußischen Jahrbüchern" über das Verlangen, wir sollten eine Malerei von unserem Zukunftsstaat geben, denkt. Da heißt es im fünften Heft vom November 1891 in einer Korrespondenz, welche den sozialistischen Parteitag betrifft:
Diejenigen, die glauben, die Sozialdemokratie durch Aufdeckung der Absurditäten ihres Programms tödten zu können,
sind in einem vollständigen Irrthum. Was hatten denn die Männer, die zuerst die Wiedererrichtung eines deutschen Nationalstaates ins Auge gefaßt haben, für ein Programm? Nichts leichter für einen kühlen Verstandesmenschen nach den Freiheitskriegen und in den 20 er Jahren, als nachzuweisen, daß die Deutschthümelei sinnlos sei, da niemand von all den deutschen Enthusiasten einen gangbaren Weg zum neuen deutschen Kaiserthum anzugeben wußte. Aus dem Nachlaß des verstorbenen Historikers Schmidt in Jena ist ein dickes Buch veröffentlicht, wonach der Freiherr von Stein von der zukünftigen Gestaltung Deutschlands die allerverkehrtesten Vorstellungen gehabt und die allerunausführbarsten Dinge angestrebt habe.
Und er schließt dann:
Praktisch ausführbare Programme bedürfen die Parteien und Staatsmänner erst in dem Augenblick, wo sie die thatsächliche Verwirklichung in die Hand nehmen.
Sehen Sie, Herr Delbrück ist ein Mann, der die Sache
studirt hat, die historische Entwicklung der Gesellschaft, aber
auch die der Sozialdemokratie kennt, und der sagt Ihnen: Thorheit,
zu verlangen, daß wir heute Detailmaßregeln im
einzelnen angeben sollen, wo wir gar nicht wissen, wann wir zur
Macht kommen. In dem Moment, wo die Sozialdemokratie praktisch an
ihre Ausgabe herantreten kann und die Frage entsteht, was thun? – wird
sich dies finden! Was will es denn bedeuten, wenn wir Ihnen diese Einzelheiten
auseinandersetzen, wie wir uns die zukünftige Gesellschaft und
den Uebergang zum – ich will mal sagen – zum sozialdemokratischen Staat
denken –? Sind Sie denn in der Lage, meine Herren, – ich
will Sie jetzt einmal fragen – zu wissen, die Sie heute
in
Wir haben unser Programm; dieses Programm enthält die allgemeinen Grundzüge dessen, was wir wollen; und um mehr kann es sich nicht handeln. Nachdem dieses Programm im einzelnen die theoretischen Anschauungen von der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft giebt, sagt es:
Das Privateigenthum an Produktionsmitteln, welches ehedem das Mittel war, dem Produzenten das Eigenthum an seinem Produkt zu sichern, ist heute zum Mittel geworden, Bauern, Handwerker und Kleinhändler zu expropriiren und die Nichtarbeiter – Kapitalisten, Großgrundbesitzer – in den Besitz des Produkts der Arbeiter zu setzen. Nur die Verwandlung des kapitalistischen Privateigenthums an Produktionsmitteln – Grund und Boden, Gruben und Bergwerke, Rohstoffe, Werkzeuge, Maschinen, Verkehrsmittel – in gesellschaftliches Eigenthum, und die Umwandlung der Warenproduktion in sozialistische, für und durch die Gesellschaft betriebene Produktion kann es bewirken, daß der Großbetrieb und die stets wachsende Ertragsfähigkeit der gesellschaftlichen Arbeit für die bisher ausgebeuteten Klassen aus einer Quelle des Elends und der Unterdrükkung zu einer Quelle der höchsten Wohlfahrt und allseitiger harmonischer Vervollkommnung werde.
Diese gesellschaftliche Umwandlung
– also die Expropriation der gesammten Arbeitsmittel,
die schon im Jahre 1848 das kommunistische Manifest forderte. und
die wir in dem Augenblick, wo die Sozialdemokratie die
diese gesellschaftliche Umwandlung bedeutet die Befreiung nicht bloß des Proletariats, sondern des gesammten Menschengeschlechts, das unter den heutigen Zuständen leidet. Aber sie kann nur das Werk der Arbeiterklasse sein, weil alle anderen Klassen, trotz der Interessenstreitigkeiten unter sich, auf dem Boden des Privateigenthums an Produktionsmitteln stehen und die Erhaltung der Grundlagen der heutigen Gesellschaft zum gemeinsamen Ziel haben.
Und weiter, meine Herren, haben wir uns auch gesagt: zu diesem äußersten Schritt kommt ihr nicht über Nacht, ihr wißt nicht, wann dieser Moment eintritt, ja, ihr wißt nicht einmal den Moment, wo ihr vielleicht theilweise, partiell an die Macht kommt und die Möglichkeit habt, wenigstens theilweise euer Programin durchzuführen. In letzter Instanz kann es zehn, zwanzig, dreißig verschiedene Wege geben, die wir betreten müssen, es sind vielleicht auch eine Reihe von Etappen zurückzulegen, ehe wir unser Ziel erreichen. Aber das steht für mich fest: nichts leichter, als wenn erst einmal die Sozialdemokratie die Staatsgewalt hat, die Großbetriebe, wie z. B. diejenigen der Herren von Stumm, Krupp u. s. w. zu expropriiren und in Gesellschaftseigenthum zu verwandeln.
(Heiterkeit.)
Und sehen Sie, meine Herren, je mehr die großen Betriebe
in die Hände der Aktionäre übergehen,
in die Hände der Nichtarbeiter, desto leichter wird das
Expropriationsgeschäft, und deshalb sind wir in gewissem
Sinne auch für die Expropriation durch den Staat; daß der
Staat z. B. die Eisenbahnen übernahm, hat uns nicht geärgert;
daß er die Bergwerke übernimmt, auch nicht, und
zwar aus dem einfachen Grunde, weil wir diese Staatsbetriebe in
sozialistische mit Leichtigkeit umwandeln können, sogar mit
Herrn von Boetticher
(Heiterkeit.)
Je mehr also die bürgerliche Gesellschaft sich in dieser Richtung entwikkelt, je mehr der Kleinbesitz verschwindet, um so leichter ist eines Tages die Expropriation vorzunehmen. Und Ihre Techniker, Ingenieure und Betriebsleiter, – die können wir sehr gut gebrauchen, die werden eines schönen Tages sehr froh sein, wenn sie in dem sozialdemokratischen „Staat" ihr Wissen ausüben können und freie Menschen werden. Wir sind wirklich nicht in Verlegenheit, wie wir die Sache anfangen müssen, wenn wir nur erst einmal so weit wären.
(Heiterkeit.)
Hierbei will ich noch eins bemerken. Um dazu zu gelangen, diesen letzten Schritt durchführen zu können, die gesellschaftliche Produktion zu organisiren, muß die politische Macht erobert werden. Wir werden also auch eine ganze Reihe von politischen Rechten und Freiheiten haben müssen, die die Staatsbürger in die Lage setzen, die ihnen zugefallenen Gewalten in entsprechender Weise zu benutzen. Da fordern wir:
allgemeines gleiches direktes Wahl- und Stimmrecht mit geheimer Stimmabgabe vom zwanzigsten Jahre an für Männer wie für Frauen,
– das ist Ihnen ein wahrer Horror –
(Heiterkeit)
Sehen Sie, das sind unsere praktischen Forderungen. Das wäre etwa ein Stückchen „sozialdemokratischer Staat". Und da frage ich Sie, Herr Bachem: stimmen Sie diesen Forderungen bei? Nein, keiner einzigen Forderung stimmen Sie zu! Weshalb sollen wir also mit Ihnen diskutiren? Hat das einen Zweck? Gar keinen! Wir gehen hinaus und predigen das der Masse, die begreift es.
Ich könnte Ihnen noch eine ganze Reihe weiterer Forderungen vorführen, die alle sich auf eine spätere eventuelle Staatsorganisation beziehen. Der letzte Akt dieser Staatsorganisation ist allerdings darauf berechnet, daß die große Maßregel der Expropriation des Privateigenthums, der Aufhebung beziehungsweise der Liquidation der öffentlichen Schulden, der Aufhebung der Hypotheken u. s. w. erfolgt. Es wird also eines schönen Tages das Wort Schillers zur Wahrheit werden:
Unser Schuldbuch sei vernichtet.
Ausgesöhnt
die ganze Welt!
(Große Heiterkeit.)
Ja, meine Herren, zu diesen Maßregeln wird einmal die
Sozialdemokratie, wenn sie die Macht hat, greifen, und die bürgerliche
Gesellschaft ist ja so kolossal verschuldet, namentlich auch die
Großgrundbesitzer, daß sie eines schönen
Tages viel-
(Heiterkeit.)
Wir werden vielleicht eines Tages auch den Herren von der Rechten als eine Art Wohlthäter erscheinen
(große Heiterkeit),
während sie uns heute als ihre schlimmsten Feinde ansehen.
Weiter, meine Herren. Wenn wir nun die Erziehungsmittel, die Bildungsmittel im großartigsten Maßstabe in unseren Händen haben und organisirt anwenden, so werden wir das allgemeine Bildungsniveau der großen Masse in verhältnißmäßig kurzer Zeit auf eine Höhe heben, von der wir heute keine Ahnung haben; und Sie, die Sie die entschiedensten Gegner einer solch allgemeinen Bildung sind, werden dann sehen, was ein Volk mit einem solchen Maß von Bildung auch in Bezug auf seine materielle Lebenshaltung und die Besserstellung derselben zu schaffen vermag.
(Sehr gut! bei den Sozialdemokraten.)
Weiter, meine Herren. Es ist wieder der große Vorzug der bürgerlichen Gesellschaft, daß dieselbe in ihrer großartigen Entwicklung der Technik, des Maschinenwesens und in der Anwendung der Naturwissenschaften auf den Produktionsprozeß, im Verkehrsmittelwesen ec., endlich die Gesellschaft in einen Zustand gebracht hat, wo sie, wenn sie nur einmal will, die Waaren, d. h. die Konsumartikel in einer Masse und Vollkommenheit erzeugen kann, daß alle in reichstem Maße zu leben vermögen.
(Lachen rechts und im Zentrum.)
Was haben wir heute? – Eine sogenannte Ueberproduktion. „Ueberproduktion"! – ein
verrücktes Wort, – wir haben Ueberproduktion,
weil alle Länder und Läger mit Waaren überfüllt
sind, weil überall die Waaren in Haufen sich aufgestapelt
haben. Und gegenüber diesen aufgestapelten Waaren,
Sie könnten überhaupt von Ihrem Rodbertus,
meine Herren von der Rechten, sehr viel lernen. Er hat viele Wahrheiten
ausgesprochen, die Sie heute nicht anerkennen; er hat auch unter
anderem die Nothwendigkeit betont, die auch Adolf Wagner in der
Neubearbeitung von Rau’s „Lehrbuch der Nationalökonomie"
ausgesprochen hat, daß die Aufhebung des Privateigenthums
an Grund und Boden im
(Hört! links.)
Dagegen sträuben sich ja die Herren dort (nach rechts) am meisten. Es sind also gerade die konservativen Nationalökonomen Rodbertus und Adolf Wagner, die das schon längst anerkannt haben. Wir sehen auch unsere Bodenreformer ganz ähnliche Anschauungen, wenn auch in anderer Art der Verwirklichung, vertreten. Nun, wenn wir erst einmal den Grund und Boden expropriiren, dann expropriiren wir selbstverständlich auch die Fabriken und was drum und dran hängt. Das ist selbstverständlich, es ist der zweite Schritt, der dem ersten folgt.
Ueber die Organisation, die dann geschaffen wird, zu reden, ist ganz überflüssig, weil wir nicht wissen, wie die Verhältnisse dann beschaffen sein werden. In welcher Art diese Organisation ins Leben treten soll, das überlassen wir denen, die alsdann in dem Augenblick vorhanden sind, um diese neue Organisation ins Leben zu rufen Ich habe die feste Ueberzeugung: sie werden nicht eine Sekunde im Zweifel sein, wie sie das am besten zu machen haben. Da zerbrechen Sie sich nicht unsere Köpfe; das überlassen Sie uns!
(Heiterkeit.)
Und, meine Herren, sehen Sie, weil die bürgerliche Gesellschaft diese großartigen Fortschritte in der materiellen und geistigen Entwicklung gemacht hat und im weiteren Verlauf ihrer Entwicklung noch weiter machen wird, entstehen auch diese widersprechenden Erscheinungen, die in dem Wechsel der Perioden der Prosperität und der Krisis immer häufiger zum Ausdruck kommen. Dadurch leiden aber die Massen immer mehr und werden dadurch immer lebhafter zu einer sozialen Reform, einer sozialen Umgestaltung von Grund aus im Sinne der Sozialdemokratie gedrängt. Sie, die Kapitalisten,
(Heiterkeit.)
Sie paar Männlein sind die Gesellschaft nicht; und in dem Augenblicke, wo Sie mit fliegenden Fahnen in das sozialdemokratische Lager übergehen würden, würden Ihre kapitalistischen Wähler draußen im Lande die Sturmglocke läuten und Sie auffordern, Ihr Mandat niederzulegen, weil Sie einen Verrath an den Interessen des geheiligten Kapitals begangen haben.
(Heiterkeit.)
Ob Sie zu uns gehören oder nicht, ist für die Entwicklung der Dinge ganz gleichgiltig; indeß soll uns jeder willkommen sein, der aus Ihren Reihen zu uns kommt.
(Heiterkeit.)
Was hat die Entwicklung der letzten Jahrzehnte gezeigt? – daß die
ganze nationalökonomische Wissenschaft mehr und mehr zu
sozialdemokratischen Anschauungen übergeht. Hat doch sogar
vor wenigen Wochen das offiziöse Organ des Papstes es offen
ausgesprochen – ich weiß im Augenblick nicht den
Namen des Blattes, es thut mir auch sehr leid, daß ich
die Notiz vergessen habe, ich werde sie Herrn Dr. Bachem privatim
mittheilen, falls er meine Angabe bezweifelt –: „es
ist kein Zweifel mehr, der Sozialismus ist die Gesellschaftsordnung
der Zukunft, und wohl oder übel, Staat und Gesellschaft
werden sich mit ihm abzufinden haben." Das spricht das offiziöse
Organ des Papstes aus, und wenn bereits solche Stimmen solche Anschauungen
aussprechen, dann haben wir wahrhaftig keine Ursache, uns graues
Haar über die Zukunft wachsen zu lassen. Im Gegentheil,
wir können getrosten Muths der Zukunft entgegengehen. Gerade
der Umstand, daß wir ökonomisch
(Oho!)
Und da sollten Sie sich sehr überlegen: was thun? Aber Sie mögen es sich noch so sehr überlegen, Sie können es doch nicht ändern – was kommen muß, kommt.
Also die bürgerliche Gesellschaft – das ist ihr innerer Widerspruch – erzeugt aus dem Ueberfluß die Noth und den Mangel. Mit diesem einen Satze ist alles gesagt. Aber indem eine neue Organisation den Ueberfluß den Massen zu gute kommen läßt, verwirklicht sich das Sprüchlein, was hierauf Heine schon vor mehr als 50 Jahren sang:
Es giebt hienieden Brod genug
Für
alle Menschenkinder
Und Rosen und Myrrhen und Schönheit
und Lust
Und Zuckererbsen nicht minder.
Ja Zuckererbsen für
jedermann
Sobald die Schoten platzen!
Den Himmel überlassen
wir
Den Engeln und den Spatzen.
(Große Unruhe rechts und im Zentrum.)
Meine Herren, das ist unser Programm, die Zukunft gehört uns und nur uns. Ob Sie mit meinen Auseinandersetzungen zufrieden gestellt sind oder nicht – wir werden weiter marschiren, und nach den nächsten Wahlen werden Sie eine noch weit größere Zahl von uns in diesem Saal sehen, als wir gegenwärtig hier vorhanden sind.
(Lebhafter Beifall bei den Sozialdemokraten. Zischen rechts.)
Lieber August,
Vor allem meine Gratulation zu Deiner prächtigen Rede
vom 3. Febr., die uns schon im „Vorwärts"-Auszug
ungeheuer gefreut hatte, aber im Stenogramm noch besser herauskommt.
Sie ist ein Meisterstück, woran auch einzelne kleine theoretische
Ungenauigkeiten, die im mündlichen Vortrag unvermeidlich
sind, nichts ändern. Ihr habt ganz recht, diese Rede in
Hunderttausenden von Exemplaren verbreiten zu lassen, auch abgesehn
von und neben der Verbreitung der ganzen Debatte im Broschürenformat.
Die
ganze Debatte wurde unter dem Titel: „Der sozialdemokratische .Zukunftsstaat'.
Verhandlungen des Deutschen Reichstags am 31 .Januar, 3., 4., 6.
und 7.Februar 1893", Berlin 1893, veröffentlicht. Bebels erste
Rede erschien als Broschüre unter dem Titel: „Zukunftsstaat
und Sozialdemokratie. Eine Rede des Reichstagsabgeordneten August Bebel
in der Sitzung des deutschen Reichstags vom 3. Februar 1893." 26
33 40 54
Diese, womit die Herren Bourgeois sich die Langeweile der - durch
das Mogeln hinter den Kulissen - öde gewordnen Sitzungen
vertreiben und auch bei der Gelegenheit uns schön aufs
Glatteis führen wollten, ist ein ganz kolossaler Sieg für
uns geworden. Und daß sie das selbst fühlen, zeigt
der Umstand, daß sie nach Liebk[necht]s Rede genug haben
und dies anzeigen lassen - durch Stoecker! Jetzt endlich also merken
die Herren, daß es ein Markstein ist zur Bezeichnung eines
neuen Siegs der Arbeiterpartei, wenn ein Parlament sich fünf
Tage lang mit der gesellschaftlichen Reorganisation in unserm Sinn
beschäftigt, und wenn obendrein dies Parlament der deutsche
Reichstag ist. Dieser letztere Umstand konstatiert vor aller Welt,
vor Freund und Feind, die triumphierende Stellung, die die deutsche
Partei sich erobert hat. Wenn das so fortgeht, werden wir bald,
ohne eigne Arbeit, allein von der Dummheit unsrer Gegner leben können.
Nicht lange nach Bebels großer Rede haben sich die revolutionären Sozialdemokraten in zwei Lager geteilt. Das eine unter Lenin hat nicht nur die politische, sondern auch die ökonomische Macht einschließlich der Zuckererbsen erobert, das andere unter Führung der deutschen Sozialdemokraten hat aus den Zuckererbsen die Erbsensuppe für Jedermann gemacht.
Das russische Experiment musste wegen der fehlenden Zuckererbsen scheitern, deren Produktion Lenin durch seinen frühen Tod nicht mehr in Gang setzen konnte. Die Erbsensuppensozialisten werden in Kürze an der Fünfprozenthürde scheitern.
Der Zuckererbsen-Sozialismus wird seine Arbeit dort wieder aufnehmen müssen, wo Marx sie durch seinen frühen Tod bedingt unterbrechen musste, nämlich bei der Neulektüre der sechs Bände über
(Unruhe bei den Sozialdemokraten.)
Meine Herren, auf die so berechtigte Forderung des Herrn Abgeordneten Bachem, der, wie ich glaube, mit voller Zustimmung der großen Mehrheit des Hauses an den Abgeordneten Bebel die Aufforderung gerichtet hatte, endlich einmal aus dem Phrasenknäuel herauszutreten und klipp und klar zu sagen, wie er sich den Zukunftsstaat denkt, hat der Abgeordnete Bebel heute mit nichts als mit seinen Redensarten geantwortet, die wir seit Jahren von ihm zu hören gewöhnt sind. Er hat uns angeblich ein Kolleg halten wollen. Meine Herren, dies Kolleg, soweit es sich nicht auf einzelne nebensächliche Dinge bezog, war einfach eine Vorlesung aus seinem bekannten Buche „Die Frau" und hat nicht ein Wort neues enthalten.
(Zuruf.)
– Jawohl, nicht ein Wort neues! Wenn der Abgeordnete Bebel sich damit entschuldigt, daß er sagt: „ja ich kann mich auf Detailmalerei nicht einlassen", so erwidere ich ihm darauf: es handelt sich hier nicht um Detailmalerei, sondern es handelt sich um die letzten Ziele, zu denen er gelangen will, und da hat er weiter nichts gethan, als uns einige der Schritte vorzumalen, die er gebraucht, um zu diesen Zielen hinzugelangen; statt aber das Ziel selbst zu bezeichnen, schloß er mit den Worten: „ihr braucht euch unsere Köpfe nicht zu zerbrechen; wenn wir so weit sind, werden wir schon wissen, was wir zu thun haben." Meine Herren, auf die Frage: wie soll es gemacht werden, daß Produktion und Konsumtion in ein richtiges Verhältniß zu einander gebracht werden? – hat er mit keinem
Meine Herren, es ist außerordentlich schwer, in das
Einzelne einzugehen, die einzelnen Punkte des Zukunftsstaates, den
der Abgeordnete Bebel im Auge hat, zu kritisiren, weil er lediglich
die Mittel angiebt, um dahin zu gelangen, in
Ich bin also genöthigt, wenn ich über den Zukunftsstaat
sprechen will, mich an diejenigen Beispiele zu halten, die uns bis
jetzt in konkreter Gestalt vorliegen. Das ist, abgesehen von dem
bekannten Richterschen Buch, das Zukunftsbild, das uns Bellamy vorgeführt
hat. Bellamy ist natürlich von Ihnen verleugnet worden
und mußte von Ihnen verleugnet werden, weil sein ganzer
Aufbau auf einem Grundsatz beruht, der noch in der letzten Nothstandsdebatte
von Ihnen als der größte Gegensatz zu dem Ihrigen,
der nur denkbar sei, hingestellt wurde. Der Staat, den Bellamy im Auge
hat, wird ja von sehr vielen Leuten, die sein Buch nur oberflächlich beurtheilen,
für sehr schön gefunden, und von ihnen wird wirklich
gemeint, es könne derselbe verwirklicht werden. Der Gegensatz
dieses Staates zu dem Bebelschen besteht darin, daß der
Bellamysche Zukunftsstaat auf idealer Zufriedenheit aufgebaut ist,
während Sie umgekehrt sagen: Zufriedenheit ist das größte
Laster, das in der Welt existiren kann, Zufriedenheit ist sogar
ein Zeichen von Gehirnerweichung. Wenn Sie Ihrerseits einen zufriedenstellenden
Staat konstruiren wollten, so müßten Sie also zugeben,
daß derselbe nur aus lasterhaften und von Gehirnerweichung durchtränkten
Bürgern bestehen könne. Das werden Sie nicht zugeben; Sie
werden vielmehr verlangen, daß Ihr Zukunftsstaat nur aus
unzufriedenen Menschen bestehen dürfe, denn zufriedene
wollen Sie ja nicht haben. Nun werden Sie doch selbst, wenn Sie
die Geschichte einigermaßen studirt haben, zugeben müssen,
daß alle diejenigen Bildungen, die sich auf gemeinschaftlicher,
gewissermaßen kommunistischer Wirthschaftsordnung entwickelt
haben, nur dann gediehen sind, wenn sie durchdrungen waren von dem
Geist der Liebe, – ich möchte geradezu sagen:
der christlichen Liebe. Bei den Herrnhutern und
Den besten Beweis hierfür bilden Sie selbst in Ihrer eigenen Fraktion. Ich weiß, wie unangenehm es Ihnen ist, wenn man von Ihren persönlichen Verhältnissen spricht; aber Sie werden mir zugeben, daß, da die Herren so oft von meinen persönlichen Verhältnissen gesprochen haben, ich
(Sehr richtig! rechts.)
Also, so sehr es feststeht, daß – Ausnahmen bestätigen nur die Regel – Sie auf genossenschaftlichem Wege Bankerott gemacht haben, ebenso fest steht, daß Ihre Privatunternehmungen sich rentiren, und daß Sie damit gute Geschäfte machen. Meine Herren, Sie sagen, Sie wollen die Unternehmer auf ein Schiff setzen und – ich weiß nicht, wohin – nach Afrika bringen. Der Herr Abgeordnete Bachem hat darauf erwidert: wir würden umgekehrt nichts dabei verlieren, wenn die Sozialdemokraten- auf ein Schiff gebracht und außer Landes geführt würden. Ich aber sage: wir brauchen das nicht, wir brauchen gar kein besonderes Schiff für die Herren; denn unter den Sozialdemokraten sitzen 18 Unternehmer – es sind unter denselben mehr Unternehmer als bei irgend einer anderen Fraktion.
(Sehr richtig! rechts.)
Also nur brauchen das besondere Schiff des Herrn Abgeordneten Bachem nicht; denn die Mehrzahl der sozialdemokratischen Abgeordneten würde gleichzeitig mit nach Afrika geschafft, wenn das Schiff der Unternehmer dahin abgeht. Meine Herren, ich habe die Statistik schon einmal vorgeführt: unter den 35 sozialdemokratischen Abgeordneten befinden sich 18 Personen, die mehr oder weniger, oder vielmehr vollkommen Unternehmer sind, es sind sogar mehrere Fabrikanten darunter; es sind dann 12 Schriftsteller und Redakteure darunter und – nach dem Almanach – ganze 2 Arbeiter. Ich möchte selbst noch bezweifeln, ob diese beiden Arbeiter das sind, was die Herren gewöhnlich unter „Arbeitern" verstehen, d. h. wirkliche Handarbeiter. Ich glaube, daß das eine Firma ist, die auch auf sie nicht ganz zutrifft.
Also, meine Herren, gerade Ihre eigene Thätigkeit hat
am besten bewiesen, daß der Spezialegoismus selbst in einer
an-
Sie verwerfen die Disziplin. Ich habe aber noch kürzlich
aus dem „Vorwärts" sowohl wie im vorigen Jahre
aus den Ausführungen des Abgeordneten Tutzauer entnommen,
daß die Disziplin für jeden Unternehmer, besonders
aber für Sie, von absoluter Nothwendigkeit sei, und ich
meine, daß wir aus demjenigen, was Herr Bebel über
die „Jungen" gesagt hat, und was wir aus den Zeitungen
kennen, alle wissen, daß gegenüber dem Terrorismus
sowohl in Ihrer Partei wie gegen diejenigen, die sich Ihnen nicht unterwerfen
wollen, die Disziplin eines Arbeitgebers, er mag heißen
wie er wolle, ein Kinderspiel ist. Ich brauche nicht hervorzuheben,
daß das Boykottiren von Fabriken und Lokalen bei Ihnen
in keinem Verhältniß steht zu dem Boykottismus
oder den schwarzen Listen von einzelnen Unternehmern oder von deren
Vereinigungen. Ich habe neulich den „Vorwärts"
gelesen und darin eine Liste
Also, meine Herren, eine wirklich klare Vorstellung über
den Zukunftsstaat haben Sie nicht, oder Sie wagen sie nicht vorzutragen,
weil es eine Spielerei sein würde, Ihnen im einzelnen zu
beweisen, daß Sie vollständig undurchführbare
Projekte im Sinn haben. Ihr Zweck ist nur einfach der, den Arbeitern
Sand in die Augen zu streuen, die Arbeiter durch falsche Hoffnungen
zu täuschen und dann für sich im Trüben
zu fischen. Das ist Ihnen bis jetzt sehr gut gelungen; und wie weit
es Ihnen in Zukunft gelingen wird, hängt von ganz anderen
Faktoren ab als von Ihnen selbst. Meine Herren, das steht für
mich ganz fest, nachdem ich Ihre Werke – vielleicht nicht
so genau durchstudirt habe, wie der Herr Abgeordnete Bachem, aber
das Buch von Bebel „Die Frau" und
(Große Heiterkeit und Beifall rechts und im Zentrum. Widerspruch bei den Sozialdemokraten.)
Meine Herren, ich habe vorhin gesagt, der Bellamysche Staat ist für Sie nicht gangbar, weil er eben von der Liebe, von der Zufriedenheit ausgeht, und Sie wollen Haß und Unzufriedenheit. Der Richtersche Staat aber gefällt mir auch nicht.
(Heiterkeit links.)
Der von Herrn Richter als Konsequenz Ihrer Ideen beschriebene Staat gefällt mir deswegen nicht, weil der Verfasser in viel zu milder und versöhnlicher Weise mit Ihnen umgegangen ist. Herr Richter hat mit vielem Geist und Satyre sein Buch geschrieben; aber die letzte Konsequenz hat er nicht gezogen. Der todtgeschlagene Buchbinder genügt mir nicht! Meine Herren, was Ihren Zukunftsstaat richtiger wiedergiebt als das Buch von Richter, das viel zu milde mit Ihnen umgeht, ist das Buch von Gregocovius „Der Himmel auf Erden", wo sich die Menschen schließlich auffressen. Dazu werden Sie nachgedrungen kommen müssen, mögen Sie wollen oder nicht! Meine Herren, ich sage, Ihre ganze Macht liegt darin, daß Sie die bösen Leidenschaften in Menschen dazu benutzen, um Hoffnungen zu erwecken, die Sie niemals erfüllen können, von denen Viele von Ihnen genau wissen, daß dies so ist, von denen aber die von Ihnen mißleiteten Arbeiter annehmen, daß Sie sie erfüllen können. Und, meine Herren, die Arbeiter werden mit dazu verführt, weil eine Menge von Gebildeten durch eine Anzahl von Kathedersozialisten – wie der Abgeordnete Bebel vorhin ganz richtig sagte – und deren Theorien verleitet werden, und sich dadurch in einem Theil der öffent
(Beifall rechts und im Zentrum.)
Ich habe noch in der letzten Zeit gesehen, wie Ihre Presse über jede Wohlfahrtseinrichtung schreibt: jede Wohlfahrtseinrichtung sei eine Schandthat, eine neue Fessel, die den Arbeiter von den Arbeitgebern abhängig mache; es wird dem Arbeiter direkt widerrathen, in Wohnungen zu ziehen, die ihnen der Fabrikherr zu mäßigen Preisen einräumt, um ihnen ihr Dasein bei ihrem verhältnißmäßig nicht zu hohen Lohn zu erleichtern; sie sollen nicht hineinziehen, weil sie, wie Sie sagen, abhängig werden – nicht etwa dadurch, daß sie der Fabrikherr jeden Tag hinaussetzen kann – denn das ist nicht der Fall –, sondern weil sie dadurch zufriedener werden, und Ihre Agitationen, Ihre Hetzereien gegen den Fabrikherrn weniger verfangen.
Nun sagen Sie: wir haben öffentliche Arbeiten zur Verminderung
der Arbeitslosigkeit verlangt. Ich habe noch keinen Antrag von Ihnen
hier im Hause gesehen. Sie haben noch keinen Gesetzentwurf eingebracht,
der die verbündeten Regierungen
Wenn der Abgeordnete Bebel meint, daß durch Herabsetzung der Arbeitszeit von 10 auf 8 Stunden der feiernde Theil der Arbeiter beschäftigt werden könnte, so ist das ein so kolossaler wirthschaftlicher Irrthum, daß ich darüber wirklich erstaunt bin, nicht etwa, daß in Volksversammlungen so etwas vorkommt, sondern darüber, daß hier im Hause derartiges vorgebracht wird. Weiß der Abgeordnete Bebel nicht, daß die Arbeitslosigkeit, über die wir uns heute zu beklagen haben,
wesentlich daher kommt, daß unser Export zurückgegangen
ist?
Dann hat der Abgeordnete Bebel gesagt, wir sollen die Lebensmittelzölle aufheben. Als die Lebensmittelzölle in ihrer vollen Höhe bestanden haben, noch vor zwei Jahren – das weiß der Abgeordnete Bebel ganz gut –, bestanden keine Klagen über Arbeitsnoth, war der Lohn hoch, war der Fleischkonsum größer, während er selbst auseinandergesetzt hat, daß seitdem die Löhne fortwährend heruntergegangen seien, der Fleischkonsum abgenommen habe, und die Sparkasseneinlagen geringer geworden seien. Das ist doch ein Beweis dafür, daß die Lebensmittelzölle die Arbeitslosigkeit nicht verschuldet haben. Wenn Sie die Getreidezölle aufheben wollen, so wird auf der anderen Seite die Landwirthschaft vom Körnerbau zu einer Wirthschaft übergeführt werden, in der sie noch weniger Arbeiter beschäftigen kann. Es wird die Arbeitslosigkeit dann nicht vermindert, sondern erheblich vermehrt werden.
Das sind alles Widersprüche; auch, wenn der Abgeordnete
Bebel sagt, die Leute aus den Städten sollen nicht aufs
Land gehen, weil dadurch die Löhne fallen würden.
Wenn er auf
Meine Herren, ich sage, die Mittel, die Sie bisher zur praktischen Aufbesserung des Lohnes der Arbeiterklassen auf Grund der heutigen Gesellschaftsordnung angegeben haben, sind absolut nichtig. Es ist nicht wahr, daß Sie jemals praktische Vorschläge gemacht haben, und wir werden abwarten, ob Sie das später thun werden. Das Einzige, was Sie gethan haben, ist, daß Sie den Arbeiterklassen durchaus falsche Vorstellungen beigebracht haben über die Zustände, wie sie bestehen, und über die Entwicklung, wie wir sie in Deutschland erlebt haben. Ich möchte dafür noch einige Beispiele vorführen.
Zunächst wird den Arbeitern weisgemacht, daß sie Hungerlöhne haben, daß die Löhne sich in immer weiter herabgehender Skala bewegen. Es ist schon wiederholt darauf hingewiesen worden, daß noch im Jahre 1888 in der Berufsgenossenschaft ein Durchschnittslohn von 612 Mark bestanden hat, der im Jahre 1890 auf einen Durchschnittslohn von 646 Mark gestiegen ist; wir sehen, daß überall, wohin man blickt, eine Aufbesserung des Lohnes stattgefunden hat. Ich würde zu weit gehen – ich würde ebenso lange sprechen müssen wie der Abgeordnete Bebel, wenn ich das in jedem einzelnen Falle nachweisen wollte; ich habe es im vorigen Jahre wiederholt vorgeführt, und es ist in diesem Jahre von verschiedenen Rednern bestätigt worden. Es ist, wie gesagt, eine krasse Unwahrheit, wenn behauptet wird, daß die Entwicklung der modernen Gesellschaft so sei, daß der Kapitalist ein größeres, der Arbeiter dem früheren Zustand gegenüber ein verhältnißmäßig geringeres Einkommen habe. Die Sache ist genau umgekehrt: der Zinsfuß geht herunter, und der Lohn steigt, – ob es sich um einen
Nun ist heute von Herabsetzung der Löhne viel die Rede
gewesen, und es ist damit ein Wort des Herrn Staatssekretärs
von Maltzahn aus der Militärkommission in Verbindung gebracht
worden. Ich war damals nicht in der Lage, sofort darauf zu antworten;
aber ich konstatire jetzt, daß dies Zitat von dem Abgeordneten
Bebel durchaus falsch hier vorgebracht wurde. Gerade von anderer
Seite, von der Opposition gegen die Militärvorlage, ist
in der Kommission argumentirt worden: die Löhne seien jetzt
sehr niedrig, die Finanzen seien sehr schlecht, und der Tiefstand
sei noch lange nicht erreicht. Darauf hat der Herr Staatssekretär
von Maltzahn erwidert, daß das letztere durchaus nicht
zutreffe, daß eine Anzahl von Ermittlungen dafür
spreche, daß seit November eine Besserung eingetreten sei,
und hat dann hinzugefügt: natürlich, wissen kann
niemand, ob der Tiefstand heute schon
Meine Herren, wie Sie auf diese Weise die unzweifelhaft fortschreitende Besserung in den Verhältnissen der arbeitenden Klassen leugnen, die ja durch eine momentane Krisis etwas zurückgegangen sein können, und die ja auch wirklich etwas zurückgegangen sind gegen den „Standard" von 1890, die aber bei weitem besser sind als noch vor zehn Jahren oder in noch früheren Perioden, – ebenso wie Sie die Arbeiter im allgemeinen mit Haß, mit Neid, mit Bosheit gegenüber der Gesellschaftsordnung erfüllen, – ebenso machen Sie es mit der persönlichen Verdächtigung einzelner Personen. Meine Herren, ich könnte Ihnen ein langes Lied darüber singen. Der Abgeordnete Bebel ist ja in meiner Heimat gewesen und hat selbst keinen Anstand genommen, hier einmal zu erklären, ich sei eigentlich an sich ein ganz anständiger Mensch, ich hätte nur falsche Prinzipien. Was heißt es denn nun dem gegenüber, wenn die Herren seiner Partei in jeder Weise, ich möchte beinahe sagen, meine Privatehre angreifen, wenn sie mich als einen Blutsauger, als einen Tyrannen hinstellen, der so schlecht wie möglich seine Arbeiter behandle, ihnen alles absauge, wozu er nur im Stande wäre? Neuerdings wird sogar eine Geschichte in einem illustrirten Blatt kolportirt, wonach mein Großvater sein Vermögen damit erworben habe, daß er mit Schinderhannes gemeinsame Sache gemacht habe.
(Große Heiterkeit.)
Das ist ein so kolossaler Blödsinn, daß in
meiner Gegend natürlich jedermann darüber lacht.
Das wissen die Herren ganz genau. Aber in dem weiteren Deutschland
wird die Sache doch ganz anders beurtheilt, und die Leute haben
dort gar keinen Grund, anzunehmen, daß hier eine infame Erfin-
Also Sie verfolgen mich, weil ich Ihnen unbequem bin, und es wäre Ihnen nicht unangenehm, wenn das Wort des Abgeordneten Auer, das er hier ausgesprochen hat: ein Ende findet Tyrannenmacht, – einen Tell fände, der vielleicht die praktische Anwendung aus solchen hetzerischen Reden zöge. Ich habe von Hamburg in diesen Tagen ein Blatt – „Echo der Gegenwart", glaube ich – zugeschickt bekommen: da steht unter der Ueberschrift „König Stumm" ein Artikel, in dem bewiesen wird, ich sei eigentlich kein Mensch, sondern ein Thier; es wird genau der zoologische Ausdruck angegeben, in welche Klasse ich gehöre: es wird gesagt, daß ich im Zukunftsstaat als Ichthyosaurus in Spiritus aufgehoben werde als Erinnerung vergangener Zeiten.
(Große Heiterkeit.)
Es war am hundertjährigen Gedenktage des Todes Ludwigs XVI., und es wurde schließlich gesagt, ich möchte bedenken, es sei viel leichter, einem Industriekönig den Kopf abzuschlagen, als einem Feudalkönig, wie Ludwig XVI.
Das sind alles Dinge, die sehr praktischer Natur sind, und ich kann nur wiederholen, was ich vor Jahren schon gesagt habe: bei all diesen Hetzereien bin ich erstaunt, daß man mich noch nicht längst todtgeschlagen hat. Es ist kein Wunder, wenn alle diese lügenhaften Behauptungen, alle diese Hetzereien gegen die Gesellschaft, wie gegen einzelne Mitglieder der Gesellschaft, die Ihnen unbequem sind, schließlich ihren Effekt nicht verfehlen werden. Wenn ich ein paar Monate lang jeden Tag nichts anderes als den „Vorwärts" lese und – wie ich allerdings hinzufüge – wirklich glaube, was darin steht, – ich würde selber Sozialdemokrat.
Meine Herren, wenn Sie auf diese Weise, geschützt durch den Wegfall des Sozialistengesetzes, geschützt durch ein nach meiner Auffassung schwächliches Preßgesetz, geschützt durch ein nach meiner Meinung schwächliches Vereinsgesetz, Ihre Reden immer weiter verbreiten, Ihre Grundsätze in immer weitere Kreise dringen lassen, so bestreite ich doch auf das allerentschiedenste, daß das ein Vorgang ist, der irgendwie zu vergleichen ist mit den großen religiösen Umwälzungen, die die Menschheit, weil sie sich in ihrem Gewissen gedrückt fühlte, zu großen Entschlüssen, meinetwegen zum Fanatismus hingeführt hat. Von einem ehrlichen Fanatismus ist bei Ihnen nicht die Rede, wohl aber von dem Fanatismus des Neides, der Bosheit, der sich gegen die Mitglieder der Parteien wendet, die nicht zu Ihnen gehören. Aber das ist eine Macht, gegen welche man nicht kämpft mit idealen Waffen, auch nicht mit den Waffen der Ueberredung. Es ist ja unmöglich, die Widerlegung Ihrer Theorien bis in die breitesten Volksmassen hineinzubringen; die Leute lesen die Reden nicht, mit welchen wir Ihnen erwidern, sondern die werden ihnen wohlweislich vorenthalten –
(Zurufe links.)
Ich sage, die Waffen, mit denen die Gefahr bekämpft werden muß, die Sie heraufbeschwören, und die der Abgeordnete Bebel heute in recht krasser Weise wieder heraufbeschworen hat, sind nicht ideale Waffen, sind nicht Rede und Gegenrede, sondern die Waffen der Gewalt, an die Sie appelliren, sobald Sie die Macht haben, und die auch Ihnen gegenüber angewendet werden muß.
(Lebhafter Beifall rechts.)
In diesem Kampfe werden Sie nur dann zum Siege kommen, wenn der Staat schwach ist, aber niemals dann, wenn der Staat seine Schuldigkeit thut und, ohne sich zu fürchten, Ihnen mit den Mitteln gegenübertritt, die er in seiner Macht hat.
(Lebhaftes Bravo rechts.)
Abgeordneter Dr.
Ich bin leider genöthigt, ihm auf diesem Pfade zu folgen,
Meine Herren, ich habe hier die Nummer des „Vorwärts", den Sie alle kennen, der an seiner Spitze die Bezeichnung trägt: „Zentralorgan der sozialdemokratischen Partei Deutschlands." Wer der Hauptredakteur dieses. „Vorwärts" ist, wissen wir: es ist der Herr Abgeordnete Liebknecht. Er ist die Seele und der moralisch verantwortliche Redakteur für dieses Blatt.
Ueber unsere Debatte am vorigen Dienstag läßt dieser „Vorwärts" sich folgendermaßen aus:
Der Zentrumskapuziner Bachem
(große Heiterkeit),
die Verdienste und den Verdienst der Richterschen Spar-Agnes im Deutschen Reichstag zum wirthschaftlichen Glaubenssatz erhebend und heilig sprechend, wie das Dogma von der unbefleckten Empfängniß der Maria – kann es etwas Groteskeres geben? Und diese verrückte Kapuzinade in einem Augenblick, wo das deutsche Volk gespannten Blickes nach dem Reichstag schaut und nur auf das eine lauert: die Entscheidung in der Militärvorlage.
Weiter heißt es hier:
Thatsache ist: während die wichtigste
Frage, die dem Deutschen Reichstag seit seinem Bestehen aufgedrängt
war, der Entscheidung zudrängt, weiß der Deutsche
Reichstag nicht, wie er seine Zeit todtschlagen soll, beschäftigt
sich mit den nichtigsten Dingen und findet sein Vergnügen
an Unterhaltungen, welche die geistigen Bedürfnisse einer
Schülerverbindung von Quartanern
(Heiterkeit.)
Meine Herren, ich kann nicht annehmen, daß, wenn ich in diesem Tone antwortete, irgend etwas sachlich zur Besserung unserer Verhältnisse und zum Nutzen des deutschen Arbeiterstandes gewonnen würde. Darum gehe ich auf diesen Ton nicht ein. Ich kann aber nicht umhin, mein Bedauern darüber auszusprechen, daß man diese ernste Kontroverse durch derartige Bemerkungen auf eine Bahn zu lenken sucht, die lediglich agitatorischer Natur ist und die gar nichts mit einer objektiven Förderung unserer heutigen Verhältnisse zu thun hat.
(Lebhafter Beifall.)
Meine Herren, es ist ja überaus schwer, gegen die sozialdemokratische Partei als solche etwas zu sagen
(Heiterkeit bei den Sozialdemokraten);
denn wenn man irgend etwas sagt, dann heißt es: das wollen wir nicht – oder es heißt: das wollen wir jetzt nicht mehr! Man weiß gar nicht, wo man sie fassen soll. Heute haben wir genau dasselbe gefunden. Während Herr Kollege Liebknecht sagt: wir beschäftigten uns mit den nichtigsten Dingen, ich habe ganz dummes Zeug, eine Kapuzinade vorgetragen – beehrt Herr Kollege Bebel mich mit einer zweistündigen Erwiderung. Ich bin Herrn Kollegen Bebel für seine Anerkennung der Bedeutung meiner Rede, die er dadurch geliefert hat, daß er mir zwei Stunden lang geantwortet hat, durchaus dankbar. Auf eine Entgegnung gegen die Aeußerungen des Vorwärts verzichte ich.
(Sehr gut!)
Meine Herren, nun will ich mich kurz wenden zu dem ersten Theil
der Rede des Herrn Kollegen Bebel. Er hat heute, wie früher
schon, ausdrücklich anerkannt, daß dasjenige,
(sehr richtig! – Lachen bei den Sozialdemokraten);
und nur dann werden die Sozialdemokraten Glück haben mit ihren Bestrebungen, wenn auf dem Wege, der jetzt beschritten ist, nicht weiter vorgegangen wird. Wir haben in den letzten 10 Jahren erheblich viel erreicht im Interesse der deutschen Arbeiter, Schritt für Schritt, aber immer unter dem Widerstande der sozialdemokratischen Fraktion. Sie hat gegen die Krankenversicherungsvorlage gestimmt, sie hat gegen die Unfallversicherungsvorlage gestimmt, sie hat gegen die Alters- und Invaliditätsversicherung gestimmt und sie hat endlich auch gegen die Arbeiterschutzgesetzgebung gestimmt, die wir im vorigen Jahre zu Stande gebracht haben. Meine Herren, wenn alle Parteien so gehandelt hätten wie die sozialdemokratische Partei, hätten wir heute weder Krankenversicherung, noch Unfallversicherung, noch Alters- und .Invaliditätsversicherung, noch auch diejenigen Beschränkungen der Arbeitszeit, diejenigen Schutzmaßregeln im Interesse der Arbeiterfamilie, welche unsere Arbeiterschutznovelle gebracht oder angebahnt hat. Das möge der deutsche Arbeiter sich klar machen, wenigstens derjenige deutsche Arbeiter, der in der Lage ist, sich zu be-
(Bravo! – Zuruf bei den Sozialdemokraten.)
Meine Herren, über die Einzelheiten spreche ich nicht. Was über den achtstündigen Arbeitstag, über die Frauenarbeit, die Kinderarbeit, die Sonntagsarbeit, die Arbeiterkammem u.s.w. zu sagen ist, hat in mustergiltiger Weise bei der Nothstandsdebatte, welche durch die Interpellation der Herren Sozialdemokraten angeregt worden ist, mein Freund Hitze ausgeführt; ich habe dem nichts hinzuzufügen und habe nichts davon zu nehmen. Wollte ich heute darauf eingehen, so möchte wohl diese Debatte kein Ende absehen lassen.
Der Herr Kollege Bebel hat dann versucht, unsere wissenschaftlichen Bestrebungen im Interesse der Besserung unserer industriellen Verhältnisse, die in München-Gladbach von uns begonnen worden sind, zu verspotten. Er hat gemeint, wir thäten in München-Gladbach nichts, als daß wir, dem Beispiele der sozialdemokratischen Partei folgend, Agitatoren ausbildeten. Er hat also unsere Bestrebungen in München-Gladbach auf dieselbe Linie stellen wollen etwa mit der Rednerschule in Hamburg, deren ausgesprochener Zweck es ist, Agitatoren heranzubilden, die nicht rechts und links sehen, sondern, der sozialdemokratischen Schnur folgend, gegen Bezahlung an dem Werke der Verführung der deutschen Arbeiterschaft ohne Nachdenken sich betheiligen. Meine Herren, haben Sie die Verhandlung des München-Gladbacher praktischen sozialen Kursus verfolgt?
(Zuruf bei den Sozialdemokraten.)
Der Herr Kollege Bebel hat sich sodann darüber beschwert,
daß ich die Gehaltsverhältnisse des Herrn Liebknecht
und von ihm selbst hier zur Sprache gebracht, und er hat die Art,
in der ich das gethan, widerlich genannt. Meine Herren, ich beziehe
mich auf das Zeugniß des ganzen Hauses, ob Sie etwas widerliches
in meinen Ausführungen gefunden haben. Ich habe dem Herrn
Liebknecht nicht vorgeworfen, daß er ein erhebliches Einkommen
hat, und auch nicht dem Herrn Kollegen Bebel und ich bin ebenso
heute weit davon entfernt. Auf dem Boden unserer Staatsordnung ist
es doch ganz in der Ordnung, daß ein Mann von der Arbeitskraft,
dem Talent und der Aufopferung für die Sache seiner Partei,
die ich anerkennen muß, wenn ich auch die Ziele dieser
Partei verurtheile, so gestellt ist, daß er ohne die Nöthe
des Lebens für das Parteiinteresse arbeiten kann. Ich habe
Ihnen keinen Vorwurf gemacht. Im Gegentheil, ich habe deutlich zu
erkennen gegeben, daß ich nicht verstehe, wie Sie in Ihrer
Partei Leute haben, die das nicht wollen, die das nicht einmal anerkennen
und Ihnen diese verhältnißmäßig
günstige Lage mißgönnen. Ich habe daraus
nur hergeleitet: wenn Sie in Ihrer Partei nicht einmal so viel Selbstbeschränkung,
so viel Neidlosigkeit erzielen können, daß Sie
Ihren ersten Führern, die in das Gefängniß gegangen
sind, die ihr ganzes Leben gearbeitet haben für Ihre Partei,
Ruhe vor derartigen An-
(Bravo!)
Sodann hat der Herr Kollege Bebel auf meine Frage: wie sieht
es mit dem sozialdemokratischen Zukunftsstaate aus? – mit
zwei Gegenfragen geantwortet. Zunächst hat er mich gefragt:
wie stellen Sie sich die Auferstehung nach dem Tode vor? Herr Kollege
Bebel, ich stelle mir die Auferstehung nach dem Tode genau so vor,
wie sie die katholische Kirche lehrt und zu glauben vorstellt, wie
sie in dem katholischen Katechismus steht und wie sie in allen Werken
katholischer Theologen seit 1800 Jahren auseinandergesetzt ist.
Hier darf ich mit Recht sagen: das steht in unseren Werken!; und
ich habe keine Veranlassung, hier mit Ihnen über dieses
altehrwürdige Dogma der katholischen Kirche, an dem seit
1800 Jahren weder Ihre Partei, noch irgend eine andere atheistische
Sekte etwas hat ändern können. – Sie
lachen! Aber das wird an der Thatsache nichts ändern. Das
sind theologische Dinge, und die gehören nicht hierher.
Hier handelt es sich um Politik, um die praktischen Ziele der Sozialdemokratie.
Ich würde in der Lage sein, Ihnen unter vier Augen, wenn
Sie geneigt wären, auf derartige religiöse Gespräche
einzugehen, sehr viel sagen zu können zum Beweise, daß der
Mensch auch noch nach dem Tode fortlebt und darum gut thut, in dieser
Zeitlichkeit auf das Leben nach dem Tode Rücksicht zu nehmen.
Ich zweifle aber daran, daß Sie geneigt
Sie haben dann mit der zweiten Frage geantwortet: können Sie uns sagen, wie der jetzige Staat nach 5 Jahren aussieht, was Sie nach 5 Jahren thun werden? Ich antworte Ihnen: jawohl weiß ich, wie unser Staat nach 5 Jahren aussieht. Er wird im wesentlichen genau so aussehen, wie er heute aussieht; nur werden wir hoffentlich über 5 Jahren zu einer weiteren Besserung der Verhältnisse der deutschen Arbeiterschaft gekommen sein. Brauche ich Ihnen Rechenschaft zu geben, was über 5 Jahren ist, wenn ich einfach die bestehende Gesellschaftsordnung, wie wir sie haben, in ihrer historischen Entwicklung annehmen und auf ihrem Boden weiter bauen will? Gewiß nicht! Eine derartige Forderung an mich stellen, ist ganz ungerechtfertigt. Aber Sie wollen etwas anderes. Sie wollen mit einem großen Kladderadatsch eine neue Gesellschaftsordnung einführen, und ich habe Ihnen ausgeführt, daß wir uns darauf nicht einlassen können, wenn wir nicht ganz genau wissen, wie diese neue Gesellschaftsordnung, die sich in allen und jeden Grundlagen und Grundsätzen von der heutigen unterscheiden soll, aussehen wird.
Ich komme nunmehr zu demjenigen, worauf es mir ankommt, nämlich zu der Auseinandersetzung, wie es im sozialdemokratischen Zukunftsstaate aussehen wird. Die Frage ist ja schon häufiger hier im Reichstage debattirt worden, auch im Lande draußen ist sie viel besprochen worden. Heute hat der Herr Kollege Bebel den Standpunkt eingenommen, daß er sagt: „wissen Sie, warum wir Ihnen unseren sozialdemokratischen Zukunftsstaat nicht ausmalen? – weil wir einen sozialdemokratischen Zukunftsstaat gar nicht wollen!" Das haben Sie heute gesagt. Früher haben Sie ganz anders gesagt, Herr Kollege Bebel; gestatten Sie mir, Sie daran zu erinnern. Sie haben früher, – wenn ich nicht irre, in den siebziger
In der Zeit der Aktion ist es zu spät zu theoretischen Diskussionen.
(Hört! hört!)
Der Plan des Zukunftsstaats muß bereits vor der Aktion in allen Theilen durchgearbeitet und fertig sein.
(Hört! hört! Lebhafte Heiterkeit.)
Meine Herren, im Jahre 1884 hat sodann der damalige Reichskanzler Fürst Bismarck an die Sozialdemokraten die Bitte gerichtet, hier den Zukunftsstaat doch auseinanderzusetzen. Damals stand Kollege Bebel noch nicht auf dem Standpunkt, daß er den sozialdemokratischen Zukunftsstaat gar nicht wolle. Damals wurde derselbe von ihm im Reichstag und draußen im Lande in allen Versammlungen, dann in der ganzen sozialdemokratischen Presse das Dogma des sozialdemokratischen Zukunftsstaats bei jeder Gelegenheit paradiren gelassen; man wußte nichts anderes, und er war das Hauptagitationsmittel. Darum frug damals – es war am 26. November – der Reichskanzler Fürst Bismarck den Herrn Kollegen Bebel folgendermaßen:
Die Kritik ist außerordentlich leicht – aber das Bessermachen! Wenn ich doch endlich einmal eine Verfassung, eine solche Gesetzgebung sehen könnte, wie die Herren Führer der Sozialdemokraten sie sich denken. Sie sind jetzt 25; das zweite Dutzend haben Sie also. Ich will Ihnen noch das dritte Dutzend geben.
(Zuruf bei den Sozialdemokraten.)
Wenn Sie aber 36 sind, dann erwarte ich mit
Sicherheit, daß Sie Ihren vollen Operationsplan
(Sehr gut! rechts. – Zuruf bei den Sozialdemokraten.)
Damals hat der Herr Kollege Bebel nicht geantwortet: wir wollen überhaupt diesen Zukunftsstaat gar nicht; – zwei Tage später, und zwar am 28. November 1884, hat der Herr Kollege Bebel folgendermaßen geantwortet:
Der Herr Reichskanzler hat vor zwei Tagen an uns appellirt, wir möchten unser Zukunftsprogramm entwickeln. Er will uns Zeit geben, bis wir 36 Mann in diesem Hause sind. Ich habe, obgleich der Herr Reichskanzler dies erst für später wünschte. Ihnen heute bereits ein nicht unwesentliches Stück zur Lösung der sozialen Frage – denn alle sozialen Fragen hängen auch mit den großen politischen Fragen zusammen – entwickelt. Wir werden bei anderen Gelegenheiten auch die rein sozialen Fragen, auch die nothwendige Organisation der Produktions- und die Organisation der Distributionsverhältnisse, auch die kooperative Ausnützung des Grund und Bodens, die Nothwendigkeit der Assoziirung sowohl der Landwirthe als des Kleingewerbs und der Arbeiter unter sich darlegen.
(Hört! hört!)
Einstweilen habe ich Ihnen heute eine Reihe von Aufgaben gestellt, die, wenn Sie dieselben lösen, uns sehr zufriedenstellen werden. Das Weitere werden wir dann später sehen.
Im Jahre 1884 haben Sie also eine sorgfältige Auseinandersetzung
der Organisation der Produktions- und der Organisation der Distributionsverhältnisse
auf der kooperativen Ausnützung von Grund und Boden versprochen;
ich konstatire,
(Sehr richtig! Bravo! rechts und im Zentrum.)
Der Herr Kollege Bebel hat uns sodann eine lange historisch- politische oder geschichtsphilosophische Auseinandersetzung gegeben über die Entwicklung der Gesellschaft. Wenn ich ihn recht verstanden habe, war der Zweck dieser Auseinandersetzung, darzuthun, daß es gar nicht nöthig ist, über einen sozialdemokratischen Zukunftsstaat hier sich auseinanderzusetzen, weil er von selber auf Grund der Entwicklung der Gesellschaft sich ergeben werde und man darum ruhig abwarten könne, wie der sozialdemokratische Zukunftsstaat aussehen werde.
Meine Herren, so einfach ist die Sache nun doch nicht, durchaus nicht. Die Sache brennt, es ist die höchste Zeit, daß Sie sich klar werden, wie Ihr Zukunssstaat aussteht. Ich für meinen Theil glaube. Sie können diese Entwicklung gar nicht abwarten. Sie haben gar keine Zeit mehr dazu!
(Zuruf links.)
Die Entwicklung, daß ein sozialdemokratischer Staat ausgeführt werden soll, steht unmittelbar vor der Thür, nach Ihren eigenen Auseinandersetzungen.
Meine Herren, unser verehrter Kollege, der Herr Reichstagsabgeordnete von
Vollmar, ebenfalls ein Mitglied der offiziellen sozialdemokratischen Partei,
wenn er auch ungleich nüchterner und besonnener in der
Beurtheilung aller politischen Verhältnisse ist als die
meisten übrigen Herren von der sozialdemokratischen Partei,
hat sich eines schönen Tages ein großes Verdienst
dadurch erworben, daß er Prophezeiungen über den
Zeitpunkt, wo der sozialdemokratische Staat ins Leben treten werde,
zusammengestellt hat. Das ist geschehen in Nr. 7 der „Neuen
Zeit", der offiziellen wissenschaftlichen Revue der
Die soziale Frage ist die Frage des Jahrhunderts, und das letzte Jahrzehnt desselben ist allem Anscheine nach berufen, es zu wichtigen Entscheidungen zu bringen.
Dann heißt es an einer anderen Stelle:
Die Partei, die wie die ansteigende Fluth alle Dämme überbraust, die sich über Land und Stadt ergießt bis in die reaktionärsten Ackerbaudistrikte, diese Partei steht heute auf dem Punkte, wo sie mit fast mathematischer Genauigkeit die Zeit bestimmen kann, in der sie zur Herrschaft kommt.
Wieder an anderer Stelle heißt es:
Die deutsche Sozialdemokratie hat eine Stellung erobert, die ihr binnen kurzer Frist den Heimfall der politischen Macht sichert.
Weiter an einer anderen Stelle:
Die Verwirklichung unserer letzten Ziele ist so nahe, daß wenige in diesem Saale sind, die diese Tage nicht erleben werden.
(Zuruf links.)
– Jawohl, das hat Herr Bebel gesagt. – Weiter:
Breche der drohende Weltkrieg aus, so könne derselbe den Sieg in zwei bis drei Jahren
– vom Herbst 1891 ab gerechnet –
bringen; andernfalls werde die Partei bei den nächsten
Weiter, meine Herren:
Und wenn die Ereignisse diese Richtung nehmen, wird unsere Partei sich gegen das Jahr 1898
(Heiterkeit)
in den Besitz der Macht setzen können.
Meine Herren, es steht also fest: in Ihrer ganzen Partei herrscht die Auffassung, daß Sie spätestens in diesem Jahrzehnt und wahrscheinlich im Jahre 1898 zur Macht kommen werden!
(Große Heiterkeit.)
Dann wird der große Kladderadatsch kommen, dann wird die soziale Revolution durchgeführt sein; dann wird Herr Bebel Präsident der Republik, Herr Liebknecht Staatssekretär des Innern, Herr Kollege Singer Finanzminister sein. Meine Herren, Sie müssen sich doch schon überlegt haben, was Sie thun wollen in diesem Augenblick! Dann sind Sie gezwungen, diese neue Republik alsbald einzurichten und in Thätigkeit treten zu lassen. Früher hat der Herr Abgeordnete Bebel ja selbst gesagt, daß es nothwendig sei, für diesen Zeitpunkt einen Plan des Zukunftsstaats bereits vor der Aktion in allen Theilen durchgearbeitet und fertig zu haben; und nun, wo wir so unmittelbar vor diesem Ereigniß stehen, kommt Herr Kollege Bebel und setzt uns auseinander: wir wollen gar keinen sozialdemokratischen Zukunftsstaat
(hört! hört! links),
der wird sich aus der Entwicklung von selbst ergeben, und wenn er sich ergeben hat, werden wir schon sehen, was wir machen.
Meine hochverehrten Herren, ich glaube nicht, daß es
(Bravo! im Zentrum und rechts.)
Meine Herren, ein ganz anderes, höchst eigenartiges
Ding ist aber die sozialdemokratische Entwicklung. Der Herr Kollege
Bebel von heute ist nicht mehr der Herr Kollege Bebel von früher,
das habe ich schon nachgewiesen. Als Beispiel diese besondere sozialdemokratische
Entwicklung! Ganz genau dasselbe ist vom Herrn Kollegen Liebknecht
zu sagen. Früher, als man der Sozialdemokratie noch nicht
so sehr das Messer auf die Brust gesetzt hatte mit dem Verlangen,
sie solle doch nun Farbe bekennen und den Staat, den sie durch eine
einzige
(Zuruf),
– was den prinzipiellen Theil anlangt, der agitatorische Theil ist ja allerdings noch Ihr Eigenthum; von dem prinzipiellen Theil sind Sie aber in den wesentlichsten Punkten schon abgewichen, und wenn der Herr Abgeordnete Bebel alt wird, wird er in sehr vielen weiteren Punkten noch davon abweichen. Dieser Herr Marx hat in seiner bekannten Kritik des sozialdemokratischen Parteiprogrammentwurfs, die eines schönen Tages zur großen Ueberraschung gewisser Mitglieder der sozialdemokratischen Fraktion Herr Engels aus London in der „Neuen Zeit" veröffentlichte, folgendes gesagt – es handelt sich um die Kritik des Entwurfs zum späteren Gothaer Programm in den siebziger Jahren – also in dieser Kritik hat Herr Marx gesagt:
Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andere. Der entspricht auch eine politische Uebergangsperiode, deren Staat nichts anderes sein kann, als die revolutionäre Diktatur des Proletariats.
Marx war der Ansicht, daß zunächst die sozialdemokratische
Als nun aber die Frage, wie denn dieser sozialdemokratische Staat aussehen würde, der Sozialdemokratie allmählich lästig wurde, da wurde diese revolutionäre Uebergangsperiode in die Ecke gestellt. Sie hatte ihre Dienste zur Fanatisirung der Massen gethan. Fortan war sie nicht mehr zu gebrauchen. In Halle, auf dem Parteitage der Sozialdemokratie, am 16. Oktober 1890 war von dieser revolutionären Uebergangsperiode nichts mehr vorhanden. Da hat Herr Liebknecht sich ganz anders ausgesprochen, nämlich folgendermaßen:
Ein Fehler unseres Programms ist seine Eintheilung.
– Nämlich die Eintheilung, was man auf dem Boden der heutigen Gesellschaftsordnung wolle, und was die definitiv anzustrebenden Prinzipien des sozialdemokratischen Zukunftsstaates sein werden.
Ein Fehler unseres Programms ist seine Eintheilung. Wie kann der Zukunftsstaat von dem heutigen Staate getrennt sein? Die heutige Gesellschaft wächst in die sozialistische hinein. Deswegen dürfen wir in unserem Programm keine bestimmte Grenze zwischen den beiden ziehen.
Damals war also Herr Liebknecht im Verfolg des sozialdemokratischen Entwicklungsgesetzes schon dazu gekommen, daß eine revolutionäre Uebergangsperiode nicht mehr nöthig sein werde, sondern daß die heutige Gesellschaft in die sozialistische hineinwachsen würde. In weiterer Entwicklung der sozialdemokratischen proteusartigen Entwicklungsfähigkeit hat dann wenige Tage später in einer Versammlung im 6. Berliner
Wenn die Arbeiter einmal die Macht erlangen, dann wird es ihnen ein Leichtes sein, zu dekretiren: von morgen Mittags 12 Uhr ab sind alle Fabriken, Werkstätten, Bergwerke u. s. w. Eigenthum des Staates, beziehungsweise der in diesen Betrieben beschäftigten Arbeiter. Damit ist der sozialdemokratische Staat mit einem Schlag hergestellt.
(Große Heiterkeit.)
Das ist also das „Hineinwachsen" des heutigen bürgerlichen
Staates in den sozialdemokratischen Zukunftsstaat! Es bedarf nur
eines Dekretes: von morgen Mittag 12 Uhr ab gehört aller
Grund und Boden, gehören alle Fabriken, gehören
alle Bergwerke der arbeitenden Bevölkerung – und
dann haben wir den sozialdemokratischen Staat! Nun wohl! Dann haben
wir den sozialdemokratischen Staat! Was dann aber weiter? Diese
Ausführungen können Sie doch nicht der Pflicht überheben,
uns zu sagen, was nun der zweite Schritt sein wird, wenn Sie im
Jahre 1898, meinethalben am 11. November, ein Dekret erlassen haben
werden: von morgen Mittag 12 Uhr ab ist alles in unseren Händen,
und dann ist der sozialdemokratische Staat eingeführt.
Meine Herren, wenn Sie also dieses Dekret erlassen haben werden,
wird der Herr Kollege Bebel nicht mehr Inhaber seiner Fabrik sein,
werden auch die anderen sozialdemokratischen Unternehmer nicht mehr
Inhaber ihrer Fabriken sein; alle Bergwerksbesitzer, alle Grundbesitzer
werden in der Lage sein, kein Eigenthum mehr zu haben, nichts mehr zu
sagen zu haben, keiner ist ihnen mehr Gehorsam schuldig; es würde
im Gegentheil gegen die sozialdemokratische Gleichberechtigung verstoßen, es
würde das demokratische Prinzip, das ja, wie der Herr Kollege
Bebel uns auseinandergesetzt hat, der Grund
(Zuruf von den Sozialdemokraten.)
– Hier aus Erden wird für Sie keine Autorität mehr sein! Und nun, bitte, Herr Kollege Bebel, setzen Sie auseinander, wie Sie es dann anfangen, um die Produktion, um die Distribution, um die genossenschaftliche Arbeit zu regeln und in die Fabriken zu vertheilen!
(Sehr gut! im Zentrum und rechts.)
In demselben Augenblick werden alle Unternehmer aufhören zu überlegen und zu berechnen, werden alle Techniker aufhören zu zeichnen und vorzubereiten, werden alle Meister der Fabriken aufhören zu ordnen und zu regeln; denn sie haben nichts mehr zu sagen, sie haben keine Autorität, und wer ihre Autorität anerkennt, der verstößt gegen das Grundprinzip des sozialdemokratischen Staats. Es werden also zunächst für den Augenblick zweissellos alle Fabriken, alle Bergwerke, alle landwirthschaftlichen Betriebe still stehen. Nun, Herr Kollege Bebel, was thun Sie dann? Sie sind dann moralisch verantwortlich dafür, daß das Volk nicht verhungert!
(Zuruf.)
– Herr Kollege Bebel, wenn Sie die Verantwortung gern übernehmen,
nehme ich an, daß Sie sich bereits ganz klar gemacht haben,
was Sie dann thun, wie Sie es in Ihrem Buche „Unsere Ziele"
damals als das absolut Nothwendige und Unentbehrliche auseinandergesetzt
haben. Also, bitte,
(Große Heiterkeit.)
Sie werden vielleicht sagen: alsdann wird eine Wahl organisirt werden müssen, um die Leiter der Bergwerke, der Fabriken, der landwirthschaftlichen Betriebe durch freie Wahl der Arbeiter zu bestellen. Ja, meine Herren, wenn nun diese Wahl, sagen wir z. B. zur Leitung eines landwirthschaftlichen Großbetriebs auf den Herrn Kollegen Singer fällt?
(Heiterkeit.)
Dann wird derselbe in der Lage sein, aus dem Lande so viel herauswirthschaften zu müssen wie der einfachste und bescheidenste Bauer, der heute das Land auf Grund einer langen Erfahrung bebaut! Wird er das können?
(Sehr gut!)
Oder der Herr Kollege Bebel wird vielleicht zum Leiter einer Maschinenfabrik gewählt werden. Es wird ihm das ja ohne allen Zweifel unangenehm sein; er erwartet, daß er zum Präsidenten der Republik gewählt wird.
(Heiterkeit.)
Aber das könnte ihm doch schief gehen; die Arbeiterschaft könnte anderer Ansicht sein, es könnte sein, daß sie einen anderen hätte, der sich besser zu diesem Posten eignet.
(Zuruf.)
Also, bitte, Herr Kollege Bebel, ich nehme an, Sie werden zum
Leiter einer Maschinenfabrik oder eines großen Bergwerks,
das 3000 Arbeiter beschäftigt, gemacht; was werden Sie
dann thun? Sie werden ohne allen Zweifel den bisherigen Leiter,
die bisherigen Techniker, die bisherigen Ober-
(Zuruf.)
– Herr Kollege Bebel, ich bin in einer ganz nüchternen Auseinandersetzung. Der Herr Präsident wird Ihnen ohne allen Zweifel das Wort geben, wenn Sie es verlangen, um auseinanderzusetzen, wie Sie sich dann verhalten. Aber vor der Hand warten Sie gütigst ab, bis Sie das Wort bekommen, und gestatten Sie mir, in ruhiger und sachlicher Weise auseinanderzusetzen, welche Schwierigkeiten ich finden würde, wenn ich vor eine derartige Aufgabe gestellt würde. Ich nehme also als unbezweifelbar an, daß alle Unternehmer, alle Techniker, alle Ingenieure Schlepper würden; ich nehme an, daß einige eben noch als Häuer zu benutzen wären; jedenfalls könnten sie nur als Lehrhäuer eine Anstellung finden; denn einstweilen verstehen sie von dem Hauen doch noch nichts. Nun wohl, Herr Kollege Bebel, wen werden Sie dann zum Techniker machen, wen werden Sie zum Maschinenwärter machen?
(Zuruf bei den Sozialdemokraten.)
– Mich nicht? – Aber warum denn nicht, Herr Kollege Bebel?
(Große Heiterkeit.)
Nehmen Sie an, ich hätte mich bis dahin zur sozialdemokratischen Partei bekehrt.
(Zuruf bei den Sozialdemokraten.)
– Ja aber, Herr Kollege Bebel, Sie werden mich doch nicht herausschmeißen?
(Große Heiterkeit.)
(Zurufe. – Glocke des Präsidenten.)
(Große Heiterkeit.)
Abgeordneter Dr.
(Zurufe. – Glocke des Präsidenten.)
Abgeordneter Dr.
(Große Heiterkeit.)
Jedenfalls richte ich nochmals die Frage an Sie –
(Glocke des Präsidenten.)
Abgeordneter Dr.
Meine Herren, die Herren von der sozialdemokratischen Partei
machen sich über alle diese Dinge keine Sorge. Ich dagegen
mache mir schon auf dem Boden unserer heutigen Gesellschaftsordnung
Sorge, daß wir unsere Leute nicht mehr genügend
ernähren können. Es ist das schlimmste und schwierigste
Problem unserer gesammten sozialen Wissenschaft und unserer Politik,
wie wir für die stets zunehmenden
(Zuruf bei den Sozialdemokraten)
– „Entsetzlich!" wird mir zugerufen. Ja, das ist in der That entsetzlich; es ist aber auch Wahrheit, – und darauf kommt es an.
(Zurufe bei den Sozialdemokraten.)
– Sie sagen: nein. Setzen Sie uns doch auseinander, wie Sie es machen werden, um einer solchen Hungersnoth vorzubeugen! Sie werden nicht leugnen können, daß, wenn Sie Ihr Dekret zur Einführung des sozialdemokratischen Staates erlassen haben, zunächst eine ganz gewaltige Desorganisation unserer gewerblichen Verhältnisse sich ergeben wird. Entweder werden alle Arbeiter, die bisher unangenehme Arbeiten verrichtet haben, in andere Gegenden gebracht – sie werden es wenigstens verlangen, daß man ihnen angenehmere Arbeit giebt –, und dann giebt es eine allgemeine Anarchie; oder aber Sie führen es ein, daß dem Einzelnen seine Arbeit angewiesen wird, daß er gezwungen wird, diese und keine andere Arbeit an diesem und keinem anderen Ort zu verrichten; damit heben Sie dann die Freizügigkeit, die freie Berufswahl auf, und das ist die vollkommenste Tyrannei, die jemals gewesen ist.
(Beifall.)
Zwischen diesen beiden Extremen giebt es kein Mittel, und Sie
müssen uns auseinandersetzen, ob Sie das eine oder das
Meine Herren, was der Herr Kollege Bebel uns hier vorträgt, unterscheidet sich ganz regelmäßig in einem ungeheuern Grade von demjenigen, was im Lande den armen zu verführenden Arbeitern vorgelogen wird. Dort leugnet man nicht ab, daß man einen sozialdemokratischen Zukunftsstaat haben wolle; im Gegentheil, ich habe in einer ganzen Reihe sozialdemokratischer Versammlungen die längstenTiraden überden Zukunftsstaat gehört, und gerade mit der Ausmalung des Zukunftsstaates, in dem Milch und Honig für jeden Arbeiter fließen soll, fanatisirt und bethört man die Arbeiter.
Der Herr Kollege Bebel hat ja auch selbst die Schönheiten des sozialdemokratischen Zukunftsstaates Ihnen ausgemalt; die schönen Seiten! die Schattenseiten nicht. Das geschieht in anderen Werken noch in viel ausdrucksvollerer Weise. Gestatten die Herren, zum Beweise auch hier nur wenige Zitate zu bringen. Ich könnte Ihnen eine ganze Menge bringen.
Das „Berliner Volksblatt" hat im November 1890 – also das offizielle Organ der sozialdemokratischen Partei unter der Redaktion des Kollegen Liebknecht – Folgendes ausgeführt:
Was man im sozialistischen Volksstaat essen wird, lassen wir dahingestellt sein. Aber daß jeder satt wird, das behaupten wir fest. Wie die Wohnungen eingerichtet sein werden, in welchem Styl man die Häuser bauen, wie die Anlage der Städte sein wird, darüber zerbrechen wir uns unseren Kopf nicht. Aber das wissen wir gewiß, daß jeder Mensch und jede Familie eine gesunde, geräumige, freundliche Wohnung, ein trauliches Heim haben wird.
(Heiterkeit. – Zurufe bei den Sozialdemokraten.)
Herr Kollege Bebel, woher wissen Sie das denn?
(Heiterkeit.)
(Heiterkeit.)
Sie müssen sich doch zuerst selbst das klar gemacht haben, wenn man Ihnen das glauben soll.
Ferner erfahren wir aus demselben Artikel, daß
die gesellschaftliche Arbeit nicht in ihrem Uebermaß die Gesundheit untergraben oder schädigen, die geistige Beschäftigung verhindern oder beeinträchtigen werde, sondern daß jedermann neben der ihm obliegenden gesellschaftlichen Arbeit noch Zeit und Muße genug haben wird, der Wissenschaft, Kunst, Natur sich zu widmen und seinen Lieblingsbeschäftigungen sich hinzugeben.
(Heiterkeit.)
Wie das zu ermöglichen ist, erfahren wir nicht.
Nun, meine Herren, das Stärkste auf diesem Gebiet hat
ja wiederum – vielleicht nicht der Herr Kollege Bebel,
aber doch der Schriftsteller August Bebel in seinem Werke „Die
Frau" geleistet. Er hat angeführt, er halte es für möglich,
daß man in baldiger Zeit dazu gelange, daß man
mit dem dreistündigen Arbeitstage auskomme. Also Sie halten
es für möglich, daß man mit dem dreistündigen
Arbeitstag auskomme! Wohl, dann muß doch vorher der Beweis
geliefert werden, daß bei einem dreistündigen
Arbeitstag so viel produzirt wird, daß wir unsere Ausfuhr
aufrecht erhalten können und für den Erlös
unserer Ausfuhr die nöthigen ungeheuren Massen Getreide
anderswo kaufen können, deren wir bedürfen,
Ein anderer Mann, der, soviel ich weiß, auch niemals von der sozialdemokratischen Partei desavouirt worden, sondern offizielles Mitglied derselben ist, Herr Stern, in seinen „Thesen über den Sozialismus", Seite 12, verspricht auch sehr viel. Er sagt:
Jedem, der sich ausweist, sein Arbeitsquantum verrichtet zu haben, steht das unumschränkte Recht auf jeden Konsum in jeder beliebigen Quantität zu.
(Anhaltende Heiterkeit).
Er bezieht seine Bekleidungsstücke aus den öffentlichen Magazinen, er ißt im Hotel was ihm beliebt
(Heiterkeit),
oder, wenn er es vorzieht, zu Hause in einer höchst komfortablen Privatwohnung
(Heiterkeit),
die mit den öffentlichen Hotels in Verbindung steht (Telephon, Rohrpost, oder was sonst noch erfunden wird), und woher er auf die bequemste Weise die Speisen bezieht, die er wünscht, oder er läßt sie sich zu Hause bereiten oder bereitet sie selbst.
(Große Heiterkeit.)
Sie sehen, meine Herren, die wunderschönen Versprechungen! Nur zerbricht sich der Herr Stern ebenso wenig den Kopf darüber, wer denn parirt, wenn er im Hotel sagt: ich wünsche ein Beefsteak zu essen! Eine Autorität giebt es im Hotel doch auch nickt; er persönlich wird auch nicht das genügende Ansehen haben, daß der Kellner – oder, pardon! der mit dieser Funktion bekleidete Genosse –
(Heiterkeit)
das Beefsteak brät und bringt. Also wie macht er es?
(Beifall.)
Meine Herren, der Herr Kollege Liebknecht ist auch einmal in der Lage gewesen, über eine derartige Frage sich auszulassen. Es waren in der Literatur, in der Presse ähnliche Fragen an ihn gestellt worden, und das hat dem Kollegen Liebknecht auf dem Halleschen Parteitag Gelegenheit gegeben, darüber zu sprechen: er hat diese Frage einfach mit einer eleganten Handbewegung bei Seite geschoben, indem er sagte: das sind „einfältige Fragen". Ich werde abwarten, ob heute einer der Herren der sozialdemokratischen Partei das auch noch antworten wird. Sodann hat Herr Liebknecht fortgefahren:
Was man heute für unmöglich hält, wird morgen möglich. Wenn man erwägt, welch gewaltige Umwälzungen der Dampf, die Elektrotechnik u. s. w. hervorgebracht, dann muß doch jedem klar sein, daß man nicht sagen kann, wie der sozialdemokratische Zukunftsstaat gestaltet sein wird. Nur ein Narr kann solche Frage stellen. Was heute Ideal ist, ist morgen Wirklichkeit und übermorgen Reaktion. Können uns unsere Gegner sagen, wie es in einem Jahre im heutigen Deutschland aussehen wird? Und diese Thoren verlangen, wir sollen ihnen sagen, wie es im sozialdemokratischen Zukunftsstaat aussehen wird!
Sie sehen also, der Kollege Liebknecht weist es durchaus ab und erklärt denjenigen für einen Thoren, der wie ich solche vorwitzigen Fragen stellt! – Ganz anders in der Abonnementseinladung zum „Berliner Volksblatt" im November 1890.
(Heiterkeit.)
Ich nehme an, daß diese Abonnementseinladung ebenfalls
von
Nur durch die sozialdemokratische Presse kann der Arbeiter über Wesen und Werth der kapitalistischen Produktionsweise aufgeklärt werden, und in der sozialdemokratischen Presse findet er Mittel und Wege angegeben, die ihn schließlich aus den Fesseln erlösen und ihn einer freien, glücklichen Zukunft entgegenführen werden.
(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.)
Ich finde in der sozialdemokratischen Presse nichts als Mittel und Wege bis zur Revolution. Bis dahin reichen Ihre Mittel aus; wie Sie aber, nachdem Sie die Macht errungen haben, nachdem die Revolution durchgeführt ist, Mittel und Wege finden wollen, nun eine neue Ordnung der Produktion, der Distribution, der kooperativen Arbeit herzustellen, darüber habe ich im „Berliner Volksblatt", im „Vorwärts", in allen anderen offiziellen und nichtoffiziellen Aeußerungen der sozialdemokratischen Partei bisher noch nicht das Geringste gefunden.
Meine Herren, das Allersonderbarste – wenn ich diesen zahmen Ausdruck gebrauchen darf – ist der Glaube der Sozialdemokratie, daß man im sozialdemokratischen Staate auskommen könne ohne Autorität und ohne Gehorsam. Sie wollen die Abschaffung aller Ausnahmegesetze, namentlich der Preß-, Vereins-, Versammlungsgesetze, überhaupt aller Gesetze, welche die freie Meinungsäußerung, die freie Forschung beschränken. Es unterliegt also keinem Zweifel, daß im sozialistischen Staat jedweder das Recht hat, in derselben bitteren Weise zu kritisiren und „Radau zu machen" – wie Sie das nennen –, wie das
Noch viel weiter gehen Ihre Aeußerungen in denjenigen Schrifstücken, von denen man nicht offiziell nachweisen kann, daß die sozialdemokratische Fraktion die Verantwortung zu tragen hat. Bei der Reichstagswahl im Jahre 1890 ist ein Flugblatt in meiner Heimat Köln in vielen tausend Exemplaren verbreitet worden und, wenn ich recht berichtet bin, auch im ganzen Rheinland und im ganzen preußischen Staate und Deutschen Reiche, welches ohne Zweifel von Parteiwegen hergestellt worden ist; denn es wurde in großen Massen aus Berlin bezogen. In diesem Reichstagswahlflugblatt von 1890 heißt es:
Herrschen ist seiner Natur nach Ausbeuten. Der Staat muß aufhören, die Domäne einzelner Stände, Personen und Klassen zu sein. Er muß werden die Vereinigung gleichberechtigter Bürger, von denen keiner über den anderen herrscht, keiner vom anderen beherrscht wird. Das erstrebt die Sozialdemokratie. Die Sozialdemokratie ist die konsequente Demokratie. Sie will eine Staats- und Gesellschaftsordnung, die, fußend auf der Gleichberechtigung aller Menschen, die Quellen der Ungleichheit verstopft, weder Herren noch Knechte duldet und eine brüderliche Gemeinschaft von freien Menschen begründet.
Ganz ähnlich hat sich, wie ich schon die Ehre hatte anzuführen, nur kürzer und noch viel schneidiger der Abgeordnete Liebknecht auf dem Parteitage in Halle ausgedrückt:
Unsere Partei leugnet alle Autorität im Himmel und auf Erden.
Heute hat der Herr Kollege Bebel diesen Ausspruch – wenn
ich so sagen darf – kommentirt. Er hat gesagt: wir leugnen
jede
(Zuruf von sozialdemokratischer Seite.)
– Langsam, langsam!
(Heiterkeit.)
Es hat niemals Menschen in größerer Zahl gegeben, die nur auf Grund der freiwilligen Autorität zu lenken waren; überall hat es Leute gegeben, die sie nicht anerkannten. Ich habe früher schon ausgeführt, daß in der sozialdemokratischen Partei diese Leute ganz besonders zahlreich sind und ganz besonders laut und lärmend mit ganz besonderem Fanatismus auftreten. Nun will der Herr Kollege Bebel auskommen ohne Autorität!
Ja, Herr Kollege Bebel, Sie müssen doch wissen: was
machen Sie denn, wenn wider Erwarten, wider Ihren Willen, gegen
das sozialdemokratische Prinzip im sozialdemokratischen Staat Einer
die freiwillige Autorität irgend welcher Leute nicht anerkennen
will? Sie werden doch nicht anders können, als ihn ins
Gefängnis zu setzen, ihn auf irgend eme Weise zur Ruhe
zu bringen! In Ihrer heutigen Partei heißt es: „wer
(Sehr gut!)
Im sozialdemokratischen Staate werden Sie dieses Wort doch nicht aufrecht erhalten wollen und jeden Menschen, der Ihre Autoritäten nicht freiwillig anerkennt, hinausschmeißen wollen! Das wäre mir eine schöne Gleichberechtigung!
(Lebhafter Beifall und Heiterkeit.)
Das wäre mir ein schönes Glück, ein schönes Wohlergehen im sozialdemokratischen Staate, wenn ich sofort hinausflöge, wenn mir irgend etwas an den dermaligen Zuständen nicht gefiele! Wie also, Herr Kollege Bebel, werden Sie mit mir verfahren? Es heißt doch: im Jahre 1898 wird der sozialdemokratische Staat fertig sein! Dann werde ich also, gezwungen oder nicht, mich fügen müssen, dann bin ich im sozialdemokratischen Staat. Ich habe also das dringendste Interesse daran, zu wissen, wie es mir dann ergehen wird.
(Sehr gut!)
Es ist mir in hohem Maße unwahrscheinlich, daß ich alsdann ohne weiteres lammfromm geworden bin und ohne alles weitere auf Grund der Verdienste der alsdann bestellten Ordner thue, um was ich von diesen gebeten werde, auch wenn es mir nicht paßt, oder wenn mir eine Arbeit zugemuthet wird, von der ich nichts verstehe, und der ich nicht gewachsen bin. Ich fürchte, daß ich in diesem Staate ein Krakehler sein werde.
(Heiterkeit. – Sehr gut!)
Werde ich mir auch den Vorwurf zuziehen, daß ich „Radau
mache", ein „Geschäftssozialist" oder gar ein „Verräther"
bin? Wenn dieser Radaumacher, Geschäftssozialisten, Verräther
aber Millionen im Staate sind, wie ich es im höchsten Grade
für wahrscheinlich halte, was werden Sie dann machen?
(Sehr. gut!)
Dann werden Sie sagen: ja, wir werden so lange kämpfen, bis sie uns freiwillig anerkennen! Das wird doch aber nicht eher geschehen, als bis Sie alle diese Millionen in einem Meer von Blut erstickt haben!
(Oh! bei den Sozialdemokraten.)
Eine nette Gleichberechtigung, ein nettes Glück, ein nettes Wohlergehen!
(Lebhafter Beifall.)
Ich wiederhole das zum zweiten Male!
Nun, meine Herren, ein anderer Ton! Einiges, was ich Ihnen vortrug, scheint Sie humoristisch angemuthet zu haben. Ich kann Ihnen aber versichern, daß mir die Sache sehr ernst ist; und wenn hier und da die ernste Behandlung, welche ich der Sache zu geben wünsche, unwillkürlich einen derartigen Ton angenommen hat, so werden Sie mir zugestehen, daß das in der Natur der Sache liegt und nicht auf mein persönliches Konto geschrieben werden kann.
(Sehr richtig!)
Die Bedeutung meiner Ausführungen kann man nicht damit abweisen, daß man, wie eben Herr Bebel that, mir zurief: „wir werden Sie zum Blechschmied machen." Es ist uns bluternst, meine Herren, und ich bin fest überzeugt, es ist auch den deutschen Arbeitern bluternst.
Wir können uns nicht der Einsicht verschließen, daß die sozialdemokratische Entwicklung auf eine sehr merkwürdige Bahn gekommen ist. Auf der einen Seite werden Sie immer vorsichtiger mit den Versprechungen des Zukunftsstaates, weil Sie keine Rechnung geben können, Sie werden immer vorsichtiger mit der Revolution, die Sie machen wollen. Denn, nachdem die von mir angeführten Aussprüche in der Welt
(Sehr gut!)
Früher hat der Herr Kollege Bebel hier auf der Tribüne die Revolution gepredigt – er ist vorsichtiger geworden, er thut es nicht mehr, er hütet sich. Hier hat er uns früher immer den „großen Kladderadatsch" prophezeit – in dieser Debatte haben wir nichts mehr davon gehört. Ich nehme an, daß auch hier wieder eine Folge der sozialdemokratischen Entwicklungsgesetze sich zeigt, daß Herr Kollege Bebel, der frühere Revolutionär, der frühere Freund des großen Kladderadatsches, inzwischen bedenklich geworden ist und sich auf den Weg begeben hat, den Ihr älterer Kollege, Herr Liebknecht, auch gegangen ist: er wartet ab, daß die heutige Gesellschaft in die sozialistische Zukunft „hineinwächst". Warten Sie es also ab!
Ich habe nichts dagegen einzuwenden.
Meine Herren, auch noch eine andere Entwicklung zeigt sich. Die
begeistertsten Anhänger der Sozialdemokratie sind heute
junge Leute, die noch gar nicht im Stande sind, unsere heutigen
Verhältnisse zu verstehen, und die nicht wissen, wie es
vor 20 Jahren in Deutschland ausgesehen hat. Die älteren
Arbeiter in unserem Vaterlande sind schon zum großen Theil
bedenklich geworden und werden ohne Zweifel noch viel bedenklicher
werden. Ein Arbeiter, der heute 45 Jahr alt ist und sich noch auf
diejenigen Zustände besinnen kann, die vor den 70er Jahren
waren, wird anerkennen, daß seine Verhältnisse
heute im Vergleich zu damals bedeutend gebessert sind, und wird
die Hoffnung nicht verloren haben, daß, wenn wir auf dem
begonnenen Wege weiter schreiten, wir zu einer Position für
ihn gelangen, von der auch wir von ihr ver-
Ihnen, meine Herren Sozialdemokraten, gehört die unbesonnene
Jugend, uns gehört der besonnene, einsichtsvolle Arbeiter,
die Arbeiter, die denken können. Ich habe schon oft ausgesprochen:
wenn der deutsche Arbeiter das Denken verloren hat, ist Gefahr vorhanden,
daß die sozialdemokratische Republik kommt; so lange er
sich aber das Denken bewahrt und den Verstand, den unser Gott ihm
gegeben hat, nach besten Kräften benutzt, solange habe
ich keine Angst vor der sozialdemokratischen Revolution. Wir sind
der sozialdemokratischen Partei dankbar, wenn sie uns hier hilft,
wenn auch nur in negativer Weise, unsere Zustände zu erkennen,
wenn sie darlegt,
Wollen die Herren doch die Entwicklung des deutschen Volkes seit 1870 gütigst mal ins Auge fassen! Als das Deutsche Reich im Jahre 1870 einig wurde, waren wir nicht annähernd der ausgesprochene Industriestaat, der wir heute sind. Dann begann ein gewaltiger Aufschwung, eine gewaltige Entwicklung unserer Industrie; sie ist uns eine Weile vorausgeeilt, aber schon im Jahre 1877 war meine Partei bei der Hand, um nun für diese sich entwickelnden Zustände Wandel zu schaffen. Schon damals haben wir Ihnen unser Programm vorgetragen: das bekannte sozialpolitische Programm des Grafen Galen. Zum großen Theil ist es heute schon in die Wirklichkeit übersetzt. Es ist sodann die Regierung gekommen und hat ein anderes Programm, das Arbeiterversicherungsprogramm, vorgebracht und durchgeführt. Wir haben selbstlos mitgearbeitet und wir dürfen mit Stolz daraus hinweisen, daß durch unsere Mitarbeit die Versicherung besser geworden ist, als wenn wir nicht mitgearbeitet hätten. Wir werden auch weiter mitarbeiten. Sie haben bei der letzten Nothstandsdebatte wiederum das Programm meines Freundes Hitze gehört, Sie hören heute wieder, daß wir den besten Willen haben, den Arbeitern zu helfen. Ja, meine Herren, weisen Sie zunächst nach, daß alle diese Dinge nicht zum guten Ende führen können. Sie werden uns nicht übertreffen an Liebe zum deutschen Arbeiter, an Aufopferung für sein Wohl, aber wir werden Sie ohne Zweifel übertreffen an Besonnenheit und an ruhigem Fortschreiten auf diesem Wege.
Meine Herren, es ist eine große Zeit, wir sind in einer
Entwicklung. Sie glauben die Zukunft vor sich zu sehen; auch wir
glauben die Zukunft vor uns. Aber ein gewaltiger
Meine Herren, eins will ich Ihnen noch sagen. Ich habe schon hervorgehoben, daß Sie hier innerhalb des Deutschen Reichstags sehr vorsichtig sind. Aber gehen Sie selber einmal unbewacht hin und hören Sie, was in den zahllosen kleineren sozialdemokratischen Versammlungen dem armen deutschen Volk vorgetragen wird. Ich bin fest überzeugt, daß, wenn diese Sitzungen stenographirt würden, und ich würde sie Ihnen hier vortragen, – jeder von Ihnen würde sie verleugnen und sagen: das entspricht nicht unserer Absicht. Aber mit diesen Dingen fanatisiren Sie das Volk, führen es irre. Wo ist denn die freie Autorität, mit der Sie den Staat regieren wollen, wenn Sie Ihre Agitatoren nicht einmal dazu bringen können, auf der Schnur zu bleiben, die Sie ihnen vorzeichnen? Wenn in den sozialdemokratischen Versammlungen nichts anderes vorgetragen würde, als was Sie hier vortragen, – keine Frage, daß Sie auch nicht annähernd dieselben Erfolge erzielt hätten, die Sie erzielt haben. Kehren auch Sie zurück zur Wahrheit und Gerechtigkeit
(Lebhafter anhaltender Beifall.)
(Geschieht.)
Die Unterstützung reicht aus.
Ich bitte, daß die Herren aufstehen oder stehen bleiben, welche die Vertagung beschließen wollen.
(Geschieht.)
Das ist die Mehrheit; die Vertagung ist beschlossen.
Ich schlage vor, morgen, den 4. Februar, Nachmittags
Ich habe noch mitzutheilen, daß der Herr Abgeordnete Dr. Casselmann aus der IX. Kommission zu scheiden wünscht. – Widerspruch wird nicht erhoben. Danach bitte ich die 1. Abtheilung, heute unmittelbar nach dem Plenum die erforderliche Ersatzwahl vorzunehmen.
Die Sitzung ist geschlossen.
(Schluß der Sitzung 4 Uhr 50 Minuten.)
zum stenographischen Bericht der 33. Sitzung.
Seite 762 D, Zeile 18/19 von unten, ist statt „der Chemnitzer Gewerbekammer" zu lesen: „des Chemnitzer Gewerbeinspektors".
Druck und Verlag der Norddeutschen Buchdruckerei und Verlags-Anstalt. Berlin SW, Wilhelmstraße 32.