Gedruckt nachzulesen in: Wladimir Iljitsch
Lenin: Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus
beim ZK der SED.
Band 22, 3. Auflage, unveränderter
Nachdruck der 1. Auflage 1960, Berlin/DDR. S. 189-309.
Erstellt
am 20.02.1999.
2. Korrektur 29.10.2000
Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus
VIII. Parasitismus und Fäulnis des Kapitalismus
|280|
Wir müssen nun noch auf eine sehr wichtige Seite des
Imperialismus eingehen, die bei den meisten Betrachtungen über
dieses Thema nicht genügend beachtet wird. Einer der Mängel
des Marxisten Hilferding ist, daß er hier im Vergleich
zu dem Nichtmarxisten Hobson einen Schritt rückwärts getan
hat. Wir sprechen von dem Parasitismus, der dem Imperialismus eigen
ist.
Wie wir gesehen haben, ist die tiefste ökonomische Grundlage
des Imperialismus das Monopol. Dieses Monopol ist ein kapitalistisches,
d.h. |281| ein
Monopol, das aus dem Kapitalismus erwachsen ist und im allgemeinen
Milieu des Kapitalismus, der Warenproduktion, der Konkurrenz, in einem
beständigen und unlösbaren Widerspruch zu diesem
allgemeinen Milieu steht. Dennoch erzeugt es, wie jedes andere Monopol,
unvermeidlich die Tendenz zur Stagnation und Fäulnis. In
dem Maße, wie Monopolpreise, sei es auch nur vorübergehend,
eingeführt werden, verschwindet bis zu einem gewissen Grade
der Antrieb zum technischen und folglich auch zu jedem anderen Fortschritt,
zur Vorwärtsbewegung; und insofern entsteht die ökonomische Möglichkeit,
den technischen Fortschritt künstlich aufzuhalten. Ein
Beispiel: In Amerika hat ein gewisser Owens eine Flaschenmaschine
erfunden, die eine Revolution in der Flaschenherstellung herbeiführt.
Das deutsche Kartell der Flaschenfabrikanten kauft Owens' Patente
auf und legt sie in das unterste Schubfach, um ihre Auswertung zu
verhindern. Gewiß kann das Monopol unter dem Kapitalismus
die Konkurrenz auf dem Weltmarkt niemals restlos und auf sehr lange
Zeit ausschalten (das ist übrigens einer der Gründe,
warum die Theorie des Ultraimperialismus unsinnig ist). Die Möglichkeit,
durch technische Verbesserungen die Produktionskosten herabzumindern
und die Profite zu erhöhen, begünstigt natürlich
Neuerungen. Aber die Tendenz zur Stagnation
und Fäulnis, die dem Monopol eigen ist, wirkt nach wie
vor und gewinnt in einzelnen Industriezweigen, in einzelnen Ländern für
gewisse Zeitspannen die Oberhand.
Das Monopol der Beherrschung besonders ausgedehnter, reicher
oder günstig gelegener Kolonien wirkt in derselben Richtung.
Weiter. Der Imperialismus bedeutet eine ungeheure Anhäufung
von Geldkapital in wenigen Ländern, das, wie wir gesehen
haben, 100 bis 150 Milliarden Francs in Wertpapieren erreicht. Daraus
ergibt sich das außergewöhnliche Anwachsen der
Klasse oder, richtiger, der Schicht der Rentner, d.h. Personen,
die vom "Kuponschneiden" leben, Personen, die von der Beteiligung
an irgendeinem Unternehmen völlig losgelöst sind,
Personen, deren Beruf der Müßiggang ist. Die Kapitalausfuhr,
eine der wesentlichsten ökonomischen Grundlagen des Imperialismus,
verstärkt diese völlige Isolierung der Rentnerschicht
von der Produktion noch mehr und drückt dem ganzen Land,
das von der Ausbeutung der Arbeit einiger überseeischer
Länder und Kolonien lebt, den Stempel des Parasitismus auf.
|282| "Im Jahre
1893", schrieb Hobson, "betrug das im Ausland investierte britische
Kapital ca. 15 Prozent des gesamten Reichtums des Vereinigten Königreichs."(96)(96) Hobson, S. 59,62. <= Es
sei daran erinnert, daß bis 1915 dieses Kapital ungefähr
auf das Zweieinhalbfache gestiegen war. "Der aggressive Imperialismus",
lesen wir weiter bei Hobson, "der den Steuerzahlern so teuer zu stehen
kommt und für den Industriellen und den Kaufmann so wenig Wert
hat, ... bildet die Quelle großer Profite für
den Kapitalisten, der Anlagemöglichkeiten für
sein Kapital sucht" (im Englischen wird dieser Begriff mit dem einen
Wort "investor" - "Kapitalanleger", Rentner - ausgedrückt)
... Die Jahreseinnahme Großbritanniens aus seinem gesamten
Außen- und Kolonialhandel, aus Einfuhr und Ausfuhr, wird
von dem Statistiker Giffen für das Jahr 1899 auf 18 Mill. £"
(ca. 170 Mill. Rubel) "geschätzt, wobei er sie mit 21/2% des Gesamtumsatzes von
800 Mill. £ annimmt." So groß diese Summe auch
ist, vermag sie doch nicht den aggressiven Imperialismus Großbritanniens
zu erklären. Dieser findet seine Erklärung vielmehr
in den 90-100 Mill. Pfund Sterling, die die Einnahmen von "investiertem"
Kapital, die Einnahmen der Rentnerschicht darstellen.
Die Einnahmen der Rentner sind also im "handelstüchtigsten"
Lande der Welt fünfmal so groß wie
die Einnahmen aus dem Außenhandel! Das ist das Wesen des
Imperialismus und des imperialistischen Parasitismus.
Der Begriff "Rentnerstaat" oder Wucherstaat wird daher in der ökonomischen
Literatur über den Imperialismus allgemein gebräuchlich.
Die Welt ist in ein Häuflein Wucherstaaten und in eine
ungeheure Mehrheit von Schuldnerstaaten gespalten. "Unter den ausländischen
Anlagen aber", schreibt Schulze-Gaevernitz, "stehen diejenigen voran,
welche politisch abhängigen oder nächstverbündeten
Ländern zuteil werden: England borgt an Ägypten,
Japan, China, Südamerika. Seine Kriegsflotte ist hier im Notfall
der Gerichtsvollzieher. Politische Macht schützt England
gegen die Schuldnerempörung."(97) (97) Schulze-Gaevernitz, "Br. Imp.", S. 320
u.a. <=Sartorius von Waltershausen
stellt in seinem Werk "Das volkswirtschaftliche System der Kapitalanlage
im Auslande" Holland als das Muster eines "Rentnerstaates" hin und
verweist |283| darauf,
daß England und Frankreich im Begriff sind, es zu werden.(98)(98) Sart.
von Waltershausen, "D. volkswirt. Syst. etc.", Brl. 1907, Buch IV. <= Schilder meint, daß fünf
Industriestaaten - Großbritannien, Frankreich, Deutschland,
Belgien und die Schweiz - "ausgesprochene Gläubigerländer"
sind. Holland zählt er nur deshalb nicht dazu, weil dieses
Land "industriell weniger entwickelt" (99) (99) Schilder, S. 393. <=sei.
Die Vereinigten Staaten seien nur in bezug auf Amerika ein Gläubigerland.
"England", schreibt Schulze-Gaevernitz, "wächst aus
dem Industriestaat allmählich in den Gläubigerstaat.
Trotz absoluter Zunahme der industriellen Produktion, auch der industriellen
Ausfuhr, steigt die relative Bedeutung der Zins- und Dividendenbezüge,
der Emissions-, Kommissions- und Spekulationsgewinne für
die Gesamtvolkswirtschaft. Es ist diese Tatsache meiner Meinung
nach die wirtschaftliche Grundlage des imperialistischen Aufschwungs.
Der Gläubiger hängt mit dem Schuldner dauernder
zusammen als der Verkäufer mit dem Käufer."(100)(100) Schulze-Gaevernitz,
"Br. Imp.", S. 122. <= über Deutschland
schrieb 1911 A. Lansburgh, der Herausgeber der Berliner Zeitschrift
"Die Bank", in dem Artikel "Der deutsche Rentnerstaat": "Man spottet
in Deutschland gern über den Hang zum Rentnertum, der bei
der französischen Bevölkerung zu finden ist, und
vergißt dabei, daß, soweit der Mittelstand in
Betracht kommt, die deutschen Verhältnisse den französischen
immer ähnlicher werden."(101)(101) "Die Bank", 1911, 1, S. 10/11. <=
Der Rentnerstaat ist der Staat des parasitären, verfaulenden
Kapitalismus, und dieser Umstand muß sich unbedingt in
allen sozialpolitischen Verhältnissen der betreffenden
Länder im allgemeinen wie auch in den zwei Hauptströmungen
der Arbeiterbewegung im besonderen widerspiegeln. Um das möglichst
anschaulich zu zeigen, überlassen wir Hobson das Wort,
der als Zeuge am "zuverlässigsten" ist, da man ihn unmöglich
der Voreingenommenheit für "marxistische Orthodoxie" verdächtigen
kann; anderseits ist er Engländer und kennt gut die Verhältnisse
in dem an Kolonien wie an Finanzkapital und imperialistischer Erfahrung
reichsten Lande.
Unter dem frischen Eindruck des Burenkriegs schilderte Hobson
den Zusammenhang des Imperialismus mit den Interessen der "Finanziers", |284| deren wachsende
Profite bei Aufträgen, Lieferungen usw., und schrieb: "Wenn
es auch die Kapitalisten sind, die diese ausgesprochen parasitäre
Politik lenken, so üben doch dieselben Motive auf gewisse
Arbeiterkategorien ihre Wirkung aus. In vielen Städten
sind die wichtigsten Industriezweige von Regierungsaufträgen
abhängig: der Imperialismus der Zentren der Hütten-
und Schiffbauindustrie ist in nicht geringem Maße dieser
Tatsache zuzuschreiben." Zweierlei Umstände führten
nach Hobsons Meinung zur Schwächung der alten Imperien:
1. "ökonomischer Parasitismus" und 2. Zusammensetzung des
Heeres aus Angehörigen abhängiger Völker.
"Der erste ist die Gepflogenheit des ökonomischen Parasitismus,
die darin besteht, daß der herrschende Staat seine Provinzen, Kolonien
und die abhängigen Länder ausnutzt, um seine herrschende Klasse
zu bereichern und die Fügsamkeit seiner unteren Klassen
durch Bestechung zu erkaufen." Die Voraussetzung für die ökonomische
Möglichkeit einer solchen Bestechung, einerlei in welcher
Form sie geschieht, ist - fügen wir von uns aus hinzu -
monopolistisch hoher Profit.
über den zweiten Umstand schreibt Hobson: "Zu den seltsamsten
Symptomen der Blindheit des Imperialismus gehört die Sorglosigkeit,
mit der Großbritannien, Frankreich und andere imperialistische
Nationen diesen Weg beschreiten. Großbritannien ist am
weitesten gegangen. Die meisten Schlachten, durch die wir unser
indisches Reich erobert haben, sind von unseren Eingeborenenarmeen
ausgefochten worden; in Indien, und in letzter Zeit auch in Ägypten,
sind große stehende Heere dem Kommando von Briten unterstellt;
fast alle Kriege, die mit unseren afrikanischen Besitzungen mit
Ausnahme der südlichen zusammenhängen, wurden
von Eingeborenen für uns geführt."
Die Perspektive der Aufteilung Chinas veranlaßt Hobson
zu folgender ökonomischer Einschätzung: "Der größte
Teil Westeuropas könnte dann das Aussehen und den Charakter
annehmen, die einige Gegenden in Süd-England, an der Riviera
sowie in den von Touristen am meisten besuchten und von den reichen
Leuten bewohnten Teilen Italiens und der Schweiz bereits haben:
ein Häuflein reicher Aristokraten, die Dividenden und Pensionen
aus dem Fernen Osten beziehen, mit einer etwas größeren
Gruppe von Angestellten und Händlern und einer noch größeren
Anzahl von Dienstboten und Arbeitern im Transportgewerbe und in
den letzten Stadien der Produktion leicht verderblicher Waren; die
wich- |285| tigsten Industrien
wären verschwunden. die Lebensmittel und Industriefabrikate für
den Massenkonsum würden als Tribut aus Asien und Afrika
kommen." "Wir haben die Möglichkeit einer noch umfassenderen
Vereinigung der westlichen Länder angedeutet, eine europäische
Föderation der Großmächte, die, weit
entfernt, die Sache der Weltzivilisation voranzubringen, die ungeheure
Gefahr eines westlichen Parasitismus heraufbeschwören könnte:
eine Gruppe fortgeschrittener Industrienationen, deren obere Klassen
aus Asien und Afrika gewaltige Tribute beziehen und mit Hilfe dieser
Tribute große Massen gefügigen Personals unterhalten,
die nicht mehr in der Produktion von landwirtschaftlichen und industriellen
Massenerzeugnissen, sondern mit persönlichen Dienstleistungen
oder untergeordneter Industriearbeit unter der Kontrolle einer neuen Finanzaristokratie
beschäftigt werden. Mögen diejenigen, die eine
solche Theorie" (es müßte heißen Perspektive)
"als nicht der Erwägung wert verächtlich abtun,
die heutigen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse
in jenen Bezirken Südenglands untersuchen, die schon jetzt
in eine solche Lage versetzt sind, und mögen sie darüber
nachdenken, welch gewaltiges Ausmaß ein derartiges System
annehmen würde, wenn China der ökonomischen Herrschaft ähnlicher
Gruppen von Finanziers, Investoren, von Beamten in Staat und Wirtschaft
unterworfen würde, die das größte potentielle
Profitreservoir, das die Welt je gekannt hat, ausschöpfen
würden, um diesen Profit in Europa zu verzehren. Die Situation
ist viel zu kompliziert, das Spiel der Weltkräfte viel
zu unberechenbar, als daß diese oder irgendeine andere
Zukunftsdeutung als einzige mit Sicherheit zutreffen müßte.
Aber die Einflüsse, die den Imperialismus Westeuropas gegenwärtig
beherrschen, bewegen sich in dieser Richtung, und wenn ihnen nicht
Widerstand geleistet wird oder sie nicht in eine andere Richtung
gedrängt werden, dann bewegen sie sich auf dieses Ziel
zu."(102)(102) Hobson, S. 103, 205, 144, 335, 386. <=
Der Verfasser hat vollkommen recht. Würden die
Kräfte des Imperialismus nicht auf Widerstand stoßen,
so würden sie eben dahin führen. Die Bedeutung
der Vereinigten Staaten von Europa in der heutigen, imperialistischen
Situation ist hier richtig bewertet. Man müßte
nur hinzufügen, daß auch innerhalb der
Arbeiterbewegung die Opportunisten, die heutzutage in den meisten
Ländern vorübergehend gesiegt haben, |286| sich
systematisch und beharrlich gerade auf dieses Ziel "zubewegen".
Der Imperialismus, der die Aufteilung der Welt und die Ausbeutung
nicht allein Chinas bedeutet, der monopolistisch hohe Profite für
eine Handvoll der reichsten Länder bedeutet, schafft die ökonomische
Möglichkeit zur Bestechung der Oberschichten des Proletariats
und nährt, formt und festigt dadurch den Opportunismus.
Nur darf man die dem Imperialismus im allgemeinen und dem Opportunismus
im besonderen entgegenwirkenden Kräfte nicht vergessen,
die der Sozialliberale Hobson natürlich nicht sieht.
Der deutsche Opportunist Gerhard Hildebrand, der seinerzeit wegen
seiner Verteidigung des Imperialismus aus der Partei ausgeschlossen
wurde, heute aber wohl ein Führer der sogenannten "sozialdemokratischen"
Partei Deutschlands sein könnte, ergänzt Hobson
ausgezeichnet, indem er die "Vereinigten Staaten von Westeuropa"
(ohne Rußland) propagiert. und zwar zum "Zusammenwirken"
gegen ... die Neger Afrikas, gegen eine "islamitische Bewegung großen
Stils", zur "Bildung einer Heeres- und Flottenmacht allerersten
Ranges", gegen eine "chinesisch-japanische Koalition" u.a.m.(103)(103) Gerhard
Hildebrand, "Die Erschütterung der Industrieherrschaft und
des Industriesozialismus", 1910, S. 229 ff. <=
Die Schilderung, die uns Schulze-Gaevernitz vom "britischen Imperialismus"
gibt, deckt dieselben Merkmale des Parasitismus auf. Während
sich in den Jahren 1865 bis 1898 das britische Volkseinkommen etwa
verdoppelt hat, hat sich das Einkommen "vom Auslande" in dieser
Zeitspanne verneunfacht. Wenn zu den "Verdiensten"
des Imperialismus "die Erziehung der Farbigen zur Arbeit" gerechnet
wird (ohne Zwang gehe es dabei nicht .. .), so besteht die "Gefahr"
des Imperialismus darin, daß Europa "die Arbeit überhaupt
- zunächst die landwirtschaftliche und montane, sodann auch
die gröbere industrielle Arbeit - auf die farbige Menschheit
abschiebt und sich selbst in die Rentnerrolle zurückzieht,
womit es vielleicht die wirtschaftliche und ihr folgend die politische
Emanzipation der farbigen Rassen vorbereitet".
Immer mehr Land wird in England der Landwirtschaft entzogen und
für Sport und Amüsement der Reichen verwendet.
Von Schottland, diesem aristokratischsten Jagd- und Sportplatz der
Welt, wird gesagt. daß es "von seiner Vergangenheit und
Herrn Carnegie" (dem amerikanischen |287| Milliardär)
"lebt". Allein für Pferderennen und Fuchsjagden gibt England jährlich
14 Millionen Pfund Sterling (etwa 130 Mill. Rubel) aus. Die Zahl der
Rentner beläuft sich in England auf rund eine Million.
Der Prozentsatz der produzierenden Bevölkerung geht zurück:
|
Bevölkerung von
England |
Arbeiter
in den Hauptindustrien |
In
% der Bevölkerung |
|
(Millionen) |
|
|
1851 |
17,9 |
4,1 |
23% |
1901 |
32,5 |
4,9 |
15% |
Nun ist der bürgerliche Erforscher des "britischen Imperialismus
zu Beginn des 20. Jahrhunderts" gezwungen, wenn er von der englischen
Arbeiterklasse spricht, systematisch einen Unterschied zu machen
zwischen der "Oberschicht" der Arbeiter
und der "eigentlichen proletarischen Unterschicht".
Die Oberschicht liefert die Mitgliedermasse der Genossenschaften
und Gewerkschaften, der Sportvereine und der zahllosen religiösen Sekten.
Ihrem Niveau ist auch das Wahlrecht angepaßt, das in England "immer
noch beschränkt genug ist, um die eigentliche
proletarische Unterschicht fernzuhalten"!! Um die Lage der
englischen Arbeiterklasse zu beschönigen, pflegt man nur
von dieser Oberschicht zu sprechen, die die Minderheit des Proletariats
ausmacht: bei der Arbeitslosigkeit z. B. "handelt es sich überwiegend
um eine Frage Londons und der proletarischen Unterschicht, welche politisch wenig in das Gewicht fällt"
... (104) (104) Schulze-Gaevernitz, "Br. Imp.", S. 301. <=Es hätte heißen müssen:
welche für die bürgerlichen Politikaster und die
"sozialistischen" Opportunisten wenig ins Gewicht fällt.
Zu den mit dem geschilderten Erscheinungskomplex verknüpften
Besonderheiten des Imperialismus gehört die abnehmende
Auswanderung aus den imperialistischen Ländern und die
zunehmende Einwanderung (Zustrom von Arbeitern und Übersiedlung)
in diese Länder aus rückständigeren Ländern
mit niedrigeren Arbeitslöhnen. Die Auswanderung aus England
sinkt, wie Hobson feststellt, seit 1884: Sie betrug in jenem Jahr 242.000
und 169.000 im Jahre 1900. Die Auswanderung aus Deutschland erreichte
ihren Höhepunkt im Jahrzehnt 1881-1890, nämlich
1.453.000, und sank in den zwei folgenden Jahrzehnten auf 544.000 |288| bzw. 341.000.
Dafür stieg die Zahl der Arbeiter, die aus Österreich,
Italien, Rußland usw. nach Deutschland kamen. Nach der
Volkszählung vom Jahre 1907 gab es in Deutschland 1.342.294
Ausländer, davon 440.800 Industriearbeiter und 257.329
Landarbeiter.(105)(105) "Statistik des Deutschen Reichs", Bd.
211. <= In Frankreich sind
die Arbeiter im Bergbau "zum großen Teil" Ausländer:
Polen, Italiener und Spanier.(106) (106) Henger, "Die Kapitalsanlage der Franzosen",
Stuttg. 1913. <=In den Vereinigten
Staaten nehmen die Einwanderer aus Ost- und Südeuropa die
am schlechtesten bezahlten Stellen ein, während die amerikanischen
Arbeiter den größten Prozentsatz der Aufseher
und der bestbezahlten Arbeiter stellen.(107)(107) Hourwich,
"Immigration and Labor", N. Y. 1913. <= Der
Imperialismus hat die Tendenz, auch unter den Arbeitern privilegierte
Kategorien auszusondern und sie von der großen Masse des
Proletariats abzuspalten.
Es muß bemerkt werden, daß in England die Tendenz
des Imperialismus, die Arbeiter zu spalten, den Opportunismus unter
ihnen zu stärken und eine zeitweilige Fäulnis
der Arbeiterbewegung hervorzurufen, viel früher zum Vorschein
kam als Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Denn zwei
der wichtigsten Merkmale des Imperialismus - riesiger Kolonialbesitz
und Monopolstellung auf dem Weltmarkt - traten in England schon
seit Mitte des 19. Jahrhunderts hervor. Marx und Engels verfolgten jahrzehntelang
systematisch diesen Zusammenhang des Opportunismus in der Arbeiterbewegung
mit den imperialistischen Besonderheiten des englischen Kapitalismus.
Engels schrieb z. B. am 7. Oktober 1858 an Marx, "... daß das
englische Proletariat faktisch mehr und mehr verbürgert,
so daß diese bürgerlichste aller Nationen es schließlich
dahin bringen zu wollen scheint, eine bürgerliche Aristokratie
und ein bürgerliches Proletariat neben der Bourgeoisie
zu besitzen. Bei einer Nation, die die ganze Welt exploitiert, ist
das allerdings gewissermaßen gerechtfertigt." |Karl Marx/Friedrich
Engels, Werke, Bd. 29, S. 358.| Fast ein Vierteljahrhundert später,
in seinem Brief vom 11. August 1881, spricht er von Gewerkschaften,
"welche nur mit jenen schlechtesten englischen vergleichbar sind,
die es zulassen, sich von an die Bourgeoisie verkauften oder zumindest
von ihr bezahlten Leuten führen zu lassen". |Karl
Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 35, S. 20.| Und in einem
Brief an Kautsky vom 12. September 1882 schreibt Engels: "Sie fragen
mich, was die englischen Arbeiter von |289| der
Kolonialpolitik denken? Nun, genau dasselbe, was sie von der Politik überhaupt
denken ... Es gibt hier ja keine Arbeiterpartei, es gibt nur Konservative
und Liberal-Radikale, und die Arbeiter zehren flott mit von dem Weltmarkts-
und Kolonialmonopol Englands."(108) (108) Briefwechsel von Marx und Engels, Bd.
II, S. 290; IV, 433. [Karl Marx/ Friedrich Engels, Werke, Bd. 35, S. 357.] K. Kautsky, "Sozialismus
und Kolonialpolitik", Brl. 1907, S. 79; diese Broschüre schrieb
Kautsky in jenen unendlich fernen Zeiten, als er noch Marxist war. <=(Dasselbe sagt Engels auch
im Vorwort zur zweiten Auflage der "Lage der arbeitenden Klasse
in England" 1892.)
Hier sind Ursachen und Wirkungen deutlich aufgezeigt. Ursachen:
1. Ausbeutung der ganzen Welt durch das betreffende Land; 2.
seine Monopolstellung auf dem Weltmarkt; 3. sein Kolonialmonopol.
Wirkungen: 1. Verbürgerung eines Teils des englischen Proletariats;
2. ein Teil des Proletariats läßt sich von Leuten
führen, die von der Bourgeoisie gekauft sind oder zumindest
von ihr bezahlt werden. Der Imperialismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts
hat die Aufteilung der Welt unter einige wenige Staaten zu Ende
geführt, von denen jeder gegenwärtig einen nicht
viel kleineren Teil der "ganzen Welt" ausbeutet (im Sinne der Gewinnung
von Extraprofit) als England im Jahre 1858; jeder nimmt eine Monopolstellung
auf dem Weltmarkt ein dank den Trusts, den Kartellen, dem Finanzkapital
und dem Verhältnis des Gläubigers zum Schuldner;
jeder besitzt bis zu einem gewissen Grade ein Kolonialmonopol (wir
sahen, daß von den 75 Mill. Quadratkilometern aller Kolonien der Welt 65 Mill., d.h. 86%
in den Händen von sechs Mächten konzentriert sind; 61 Mill., d.h. 81%, sind in den Händen
von 3 Mächten konzentriert).
Das Merkmal der heutigen Lage besteht in ökonomischen
und politischen Bedingungen, die zwangsläufig die Unversöhnlichkeit
des Opportunismus mit den allgemeinen und grundlegenden Interessen
der Arbeiterbewegung verstärken mußten: Der Imperialismus
hat sich aus Ansätzen zum herrschenden System entwickelt;
die kapitalistischen Monopole haben in der Volkswirtschaft und in
der Politik den ersten Platz eingenommen; die Aufteilung der Welt
ist beendet; und anderseits sehen wir an Stelle des ungeteilten
englischen Monopols den Kampf einer kleinen Anzahl imperialistischer
Mächte um die Beteiligung am Monopol, der |290| den
ganzen Beginn des 20. Jahrhunderts kennzeichnet. Der Opportunismus
kann jetzt nicht mehr in der Arbeiterbewegung irgendeines Landes auf
eine lange Reihe von Jahrzehnten hinaus völlig Sieger bleiben,
so wie er in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in
England gesiegt hatte; in einer Reihe von Ländern ist der
Opportunismus vielmehr reif, überreif geworden und in Fäulnis übergegangen,
da er sich als Sozialchauvinismus mit der bürgerlichen
Politik restlos verschmolzen hat.(109)(109) Der russische Sozialchauvinismus der
Herren Potressow, Tschchenkeli, Maslow usw. sowohl in seiner offenen
Gestalt wie in der verkappten (der Herren Tschcheïdse,
Skobelew, Axelrod, Martow usw.) ist ebenfalls aus der russischen
Abart des Opportunismus, nämlich dem Liquidatorentum, hervorgegangen. <=